„Die Sensibilität für Genderfragen ist in Kitas deutlich angewachsen“

Die Redaktion im Interview mit Dr. Claudia Wallner

Foto: Privat.

Wir haben Dr. Claudia Wallner zu ihren Erfahrungen mit der Zusammenarbeit mit den Projekten aus dem ESF-Modellprogramm ‚MEHR Männer in Kitas‘ befragt. Dr. Claudia Wallner ist Diplom-Pädagogin und ist als freiberufliche Referentin, Autorin und Praxisforscherin zu Genderthemen tätig. Seit vielen Jahren gibt sie Fortbildungen in Kitas zu Fragen des geschlechtsbewussten Arbeitens.

 

Redaktion: Frau Dr. Wallner, Sie haben im Rahmen des laufenden Modellprogramms ‚MEHR Männer in Kitas‘ mit unseren Modellprojekten zusammengearbeitet – was waren Ihre Tätigkeiten und welche Erfahrungen haben Sie gemacht?


Wallner: Ich habe sowohl mit als auch für Kolleginnen und Kollegen aus Kitas Seminare und  Fortbildungen angeboten und Vorträge gehalten – teils alleine, teils mit meinem Kollegen aus der Jungenarbeit Michael Drogand-Strud zusammen, teils für ganze Teams einer Kita, teils als offen ausgeschriebene Fachtage für Vertreterinnen und Vertreter vieler Kitas zu einem bestimmten Thema. In den meisten Angeboten ging es um eine grundsätzliche (Erst-)Sensibilisierung zu Geschlechterfragen und eine Einführung in Genderpädagogik in der Kita.

Was ist passiert, das berichtenswert ist? Zunächst einmal: Im Vergleich zu vor einigen Jahren ist die Sensibilität für Genderfragen in Kitas deutlich angewachsen. Aussagen wie ‚In dem Alter spielt das noch keine Rolle‘ sind seltener zu hören. Das Wissen, dass bereits Zwei- bis Dreijährige sich damit beschäftigen, was sie zu Mädchen oder Jungen macht – respektive wie sie sich verhalten und für was sie sich interessieren sollen und wollen, damit sie eindeutig zugehörig von ihrer Umwelt zu identifizieren sind –, ist in vielen Kitas angekommen. Pädagogische Fachkräfte sind interessiert daran zu verstehen, wie Geschlechterzuschreibungen und eine freie und vielfältige Entwicklung von Kindern im Zusammenhang stehen und was sie tun können, um Mädchen und Jungen Welten zu eröffnen und nicht frühzeitig zu verschließen. Das ist ein großer Fortschritt, zu dem sicher auch das Programm ‚MEHR Männer in Kitas‘ seinen Beitrag geleistet hat, weil es so viele Möglichkeiten der Fortbildung und Reflexion bietet.

Ein großes Problem in den Diskussionen um Gender mit Erzieherinnen und Erziehern ist aus meiner Erfahrung die vermeintliche ‚Neutralität‘: Sie gilt vielen Fachkräften in Kitas als richtiges Gegenmittel gegen Geschlechterzuschreibungen: ‚Wir haben nur neutrales Spielzeug‘, meint, dass es keine rosa oder hellblauen Spielsachen in der Kita gibt oder dass vieles aus unbehandeltem Holz ist. ‚Wir verhalten uns allen Kindern gegenüber neutral‘, drückt aus, dass viele Erzieherinnen und Erzieher meinen, sich gegenüber Mädchen und Jungen genau gleich zu verhalten und von ihnen auch gleiches zu erwarten. Der Glaube daran, dass es neutrale Zonen, Angebote und Verhaltensweisen gäbe, die geschlechtliche Zuschreibungen und Inszenierungen generell ausschließen, sitzt tief und ist aus meiner Sicht einer der größten Irrglauben, der das Reflektieren von Genderfragen be- bzw. verhindert. Genderseminare etc. sind gefragt, gerade diesen Punkt explizit aufzugreifen, wenn man erreichen will, dass Kitas geschlechterbewusst arbeiten.

Jungen stehen bei pädagogischen Fachkräften aus Genderperspektive viel mehr im Fokus als Mädchen: Viele Fachkräfte finden den Weg in Genderfortbildungen, weil sie mit Jungen Probleme haben und hoffen, hier Hinweise und Methoden zu finden, um Jungen besser ‚in den Griff‘ zu bekommen. Dabei ist der Blick auf Jungen oft auf die als klassisch männlich zugeschriebenen lauten und lebhaften Selbstäußerungen gerichtet, die als eher belastend empfunden werden. Der Wahrnehmungszugang zur Vielfalt männlicher Interessen und Verhaltensweisen auch bei kleinen Jungen muss oft erst angeregt werden. Über Mädchen wird meinem Eindruck nach weniger reflektiert. Sie werden oft als ‚besser zu handhaben‘ empfunden. Auch hier gilt es, die Wahrnehmung für die Vielfalt von Interessen und Verhaltensweisen von Mädchen zu sensibilisieren.

Es ist kein Problem, als Frau (zudem aus der Mädchenarbeit) Seminare über Jungen und Jungenarbeit anzubieten – umgekehrt ist dies immer noch unmöglich. Meine Erfahrung ist, dass es gerade Erzieherinnen leichter fällt, über Jungen mit einer weiblichen Fortbildnerin zu sprechen, weil sie Verständnis für ihre Probleme erwarten oder einfach weil sie sich in diesem Gesprächssetting wohler fühlen. Männer, die Genderseminare über Mädchen und Mädchenarbeit anbieten, sind nicht gefragt. Das hat sicherlich geschlechterpolitisch und -pädagogisch historische Ursachen, sollte aber perspektivisch diskutiert werden und es sollten Möglichkeiten des ‚Crossworkens‘ auch auf Kollegenseite ausgelotet werden. Wenn politisch und pädagogisch gewollt ist, dass männliche Kollegen mit Mädchen arbeiten – und das tun sie eben auch, wenn sie in Kitas angestellt werden –, dann sollte aus geschlechterpädagogischer Perspektive nicht nur darüber nachgedacht und es sollten nicht nur Genderkonzepte für ihre Arbeit mit Jungen entwickelt und umgesetzt werden, sondern ebenso für die Arbeit von Erziehern mit Mädchen.


Redaktion: Was ist bei der Umsetzung einer geschlechtersensiblen Pädagogik in den Kitas gut gelungen und was wurde erreicht?


Wallner: Gut gelungen ist m.E., Erzieherinnen und Erziehern Gender als wichtige Kategorie für die Erziehung und Begleitung von Mädchen und Jungen in Kitas näherzubringen. Erreicht wurde sicherlich, dass die Kitas und die Fachkräfte vor Ort, die sich Genderfragen zugewandt haben, ihre Arbeit reflektieren und auch sich selbst nun genauer beobachten, wann und wie sie Geschlechterbotschaften aussenden und ob sie dies wollen. Als richtig und wichtig hat sich erwiesen, Teams über längere Phasen in ihren Reflexionen und Qualifizierungen zu begleiten und beide Elemente miteinander zu verbinden. Es ist aber noch ein weiter Weg bis zu dem Punkt, dass die Kitas in Deutschland selbstverständlich Geschlechterfragen reflektieren. Aus- und Weiterbildung muss weiter angeboten werden.


Koordinationsstelle: Was waren Stolpersteine bei der Umsetzung einer geschlechtersensiblen Pädagogik in den Kitas?


Wallner: Ein Stolperstein war sicherlich der Name des Programms ‚MEHR Männer in Kitas‘, der von vielen Erzieherinnen als Affront gegen ihre Arbeit und ihre Person empfunden wurde. Das hat vor Ort oftmals Türen gegenüber dem Genderthema zugeschlagen, die dann erst mühsam wieder geöffnet werden mussten. Und auch Erzieher mussten sich mit dem impliziten Anspruch, ‚nun als die besseren Fachkräfte endlich insbesondere den Jungen gerecht zu werden‘, auseinandersetzen. Kein einfacher Zugang.

Schwierig war oft auch die personelle Lage (zu große Gruppen, zu wenig Zeit außerhalb der Gruppenbetreuung für Fortbildungen, Teamsitzungen, Reflexionen) in den Kitas, die nur wenig Spielraum lässt für die Weiterentwicklung der Konzepte. Und die Überfrachtung von Kitas durch diverse Programme und Ansprüche von außen. Viele Kitas haben so viele Themen zu bewältigen und so eine Arbeitsverdichtung, dass die Auseinandersetzung mit Gender als ‚das kleinste Problem, das wir haben‘ angesehen wird.

Einen weiteren Text von Dr. Claudia Wallner können Sie in unserer im März 2014 erscheinenden Handreichung „Gendersensibel arbeiten in Kindertagesstätten“ nachlesen, in „MEHR Männer in Kitas – Analysen, Erfahrungen und Strategien“, Hrsg. Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ (2013).

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