30.08.2017

„Als wäre Geld der einzige Faktor bei der Berufswahl!“

Im Interview erzählt Michael Cremers wie es zum Boys‘ Day kam und zeigt, welche Bedeutung er heute angesichts der weiter fortschreitenden Umwälzung des Arbeitsmarktes hat.

Foto: Tim Deussen. Copyright: Koordinationsstelle "Chance Quereinstieg/Männer in Kitas".

Michael Cremers studierte Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt auf Geschlechterperspektiven in den Feldern der sozialen Arbeit und Erziehung. Seit September 2008 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin, seit Mitte 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Fachreferent der Koordinationsstelle „Männer in Kitas‘ / Chance Quereinstieg“. Zurzeit arbeitet er an der Follow-Up-Studie: „10 Jahre Männer in Kindertagesstätten“.

Herr Cremers, Sie haben den Boys' Day in der ersten Förderphase von 2005-2007 wissenschaftlich begleitet. Wie fing alles an?

Der Anfang war vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der ‚Boys Day‘ damals nicht so hieß, sondern ‚Neue Wege für Jungs‘. Die Initiative verstand sich in erster Linie als Netzwerkprojekt und Service-Büro für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die mit Jungen der Jahrgangsstufen fünf bis zehn pädagogisch arbeiten. Mit diesem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Pilotprojekt sollten Engagierte in Schulen, Jugendarbeit und Berufsberatung bei der Umsetzung von adäquaten Angeboten für Jungen unterstützt werden. In diesem Alter befinden sich Jungen in einer Phase der intensiven Auseinandersetzung mit der Geschlechterthematik und der Konfrontation mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern.

Im Projekt ‚Neue Wege für Jungs‘ ging es nicht nur um Berufsorientierung. Der Name ‚Neue Wege für Jungs‘ wurde in der ersten Förderphase bewusst in Abgrenzung zur Bezeichnung „Boys’ Day“ gewählt, da die Konzeption des „Girls’ Day – Mädchen-Zukunftstag“ nicht Eins-zu-eins übernommen werden sollte, solange ein eigenständiges Format für Jungen, das den Kontext aktueller Geschlechterverhältnisse berücksichtigt und sich an den subjektiven Erlebniswelten der Jungen orientiert, noch nicht entwickelt und erprobt worden ist. Entsprechend lag die inhaltliche Schwerpunktsetzung der ‚Neuen Wege für Jungs‘ nicht nur in der Erweiterung des Berufswahlspektrums durch eintägige Kurzzeitpraktika, wie dies beim ‚Girls’Day“‘ bzw. seit 2011 beim ‚Boys Day‘ der Fall ist, sondern gerade auch in der Unterstützung von längerfristigen Angeboten für Jungen, die einen Beitrag zur Erweiterung des Berufswahlspektrums, zur Stärkung sozialer Kompetenzen und zum kritischen Umgang mit gesellschaftlichen Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern bzw. sogenannten Geschlechterrollen beitragen sollten.

Warum Jungen- und Männerpolitik?

In diesem Sinne orientierten sich die beteiligten Akteure der ersten Stunde inhaltlich an den Argumenten, die damals bereits seit einigen Jahren gegen eine klassische Frauenförderungs- und Gleichstellungspolitik vorgebracht wurden. Gleichstellungspolitik konzipiert als Frauenpolitik belässt Männer weitgehend im Zustand der Geschlechtslosigkeit. So als ob nur Mädchen und Frauen ein Geschlecht haben und Jungen und Männer nicht. Daran schließt sich die Forderung an, neben der Frauenpolitik zugleich eine Männerpolitik zu etablieren, ansonsten käme es nicht zu einer nachhaltigen Umgestaltung bestehender Geschlechterverhältnisse. Diese Sichtweise war aber damals wie heute immer dann umstritten, wenn in diesem Kontext nur von einem Wandel der Geschlechterrollen die Rede ist und nicht auch von Machtverhältnissen, die in der Regel zugunsten der Männer und zu Ungunsten der Frauen organisiert werden. Wie schon die klassische Frauenpolitik sollte auch die modernisierte Gleichstellungspolitik eine neue Arbeitsteilung anstreben, in der sich Männer und Frauen diese Arbeiten gerechter teilen. Aber sie sollte Frauen und Männer bzw. Mädchen und Jungen adressieren und gesellschaftliche Strukturen verändern, um nicht nur Frauen und Mädchen, sondern auch Jungen und Männern zu ermöglichen, sich von dem Druck zu befreien, zugeschriebene Geschlechterrollen erfüllen zu müssen. Privat, wie professionell, das heißt in der Erwerbsarbeit wie in der Sorgearbeit.

Was die pädagogische Ausrichtung anging, wurde mit dem Projekt ‚Neue Wege für Jungs‘ vor allem das Ziel verfolgt, eine das Geschlecht reflektierende Pädagogik mit Jungen zu etablieren und diese mit den bereits seit längerem etablierten Bausteinen ‚geschlechtsbezogene Pädagogik mit Mädchen‘ und ‚reflexive Koedukation‘ zu verbinden.

Die Situation der Berufe im Sozialen, in der Pflege und Erziehung sind unverändert schlecht bezahlt. Was bringt es, Jungs zu motivieren, schlecht bezahlte Berufe zu ergreifen?

Ja genau – eine gute und berechtigte Frage. Professionelle Sorgearbeit und frühe Bildung wird (bisher) hauptsächlich von Frauen ausgeübt und die geringen Verdienstchancen in diesem Bereich sind maßgeblich verantwortlich für den weiterhin bestehenden großen Gender Pay Gap. Laut aktuellem Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2017, der gerade jetzt im Juni erschienen ist, verdienen Beschäftigte in der frühen Bildung auf einer Vollzeitstelle pro Monat brutto durchschnittlich 3037 Euro. Das sind etwa 225 Euro weniger als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Männer insgesamt auf dem Arbeitsmarkt verdienen etwa 265 Euro mehr als sozialversicherungspflichtig beschäftigte Frauen in anderen Bereichen verdienen. Das heißt aber auch, dass nicht alle sozialen Berufe in einen Topf geworfen werden sollten, weil sich bei genauerem Hinsehen zeigt, dass sich die Geschlechterverteilung, die Rahmenbedingungen und Arbeitsplatzzufriedenheit in den jeweiligen Berufsfeldern doch sehr unterscheiden. Je tiefer in die jeweiligen Bereiche hineingeschaut wird, desto größer die Differenzen. Das gilt, wie beschrieben, für den Verdienst, aber darüber hinaus zeigen zum Beispiel zahlreiche Studienergebnisse und auch unsere eigene Forschung für das Feld der Kindertageseinrichtungen, dass Fachkräfte ihren Beruf zwar in der Tendenz, schlecht bezahlt und als geprägt durch geringe gesellschaftliche Anerkennung, fehlende Aufstiegsmöglichkeiten und steigende Arbeitsbelastungen sowie neue normative Bildungsanforderungen beschreiben,  die Arbeitszufriedenheit aber trotzdem sehr hoch ist.

Die Frage danach, was es bringt, Jungen und Männer zu motivieren, schlecht bezahlte Berufe bzw. schlechter bezahlte Berufe zu ergreifen, tut aber so, als wäre Geld der einzige Faktor bei der Berufswahl, als gäbe es nicht weitere Faktoren, die einen Beruf attraktiv machen. Zudem suggeriert diese Frage, als gäbe es so etwas wie eine ‚freie‘ Berufswahl, die unabhängig von geschlechtlichen Zuschreibungen oder einem globalen Arbeitsmarkt wäre. Für Deutschland lässt sich doch beispielsweise sagen, dass durch Globalisierungs- und Rationalisierungsprozesse in den letzten Dekaden traditionell von Männern dominierte Sektoren wie Bergbau, Industrie und Teilbereiche des Handwerks automatisiert und/oder in sogenannte Billiglohnländer ausgelagert wurden. Gleichzeitig hat die zunehmende Alterung der Bevölkerung und der gleichstellungspolitisch motivierte Ausbau der Kindertagesbetreuung zu einer steigenden Nachfrage an professionellen Sorgeleistungen bzw. Fachkräften in der frühen Bildung und damit zu einer Steigerung der Arbeitsplätze im traditionell weiblich konnotierten personennahen Dienstleistungssektor geführt. Das Gutachten zum zweiten nationalen Gleichstellungsbericht prognostiziert bis 2030 eine fortschreitende Umwälzung des Arbeitsmarktes: Während heute knapp 18 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in der professionellen Sorgearbeit tätig sind, sollen es dann 25 bis über 30 Prozent sein. Gleichzeitig wird der Anteil derjenigen, die im ‚produzierenden‘ Gewerbe arbeiten, im selben Zeitraum durch die fortschreitende Auslagerung männlich konnotierter Arbeitsplätze und durch die ebenfalls fortschreitende Digitalisierung der Arbeitswelt auf 19 Prozent zurückgehen. Von einer ‚freien‘ Berufswahl also keine Rede. Ich denke, Männer werden sich auf Dauer  für diesen Bereich öffnen.

Wie könnten mehr Männer ihren Weg in erzieherische, pflegerische und soziale Berufe finden?

Wie schon gesagt, der Arbeitsmarkt und auch die Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen wandeln sich. Für eine Gleichstellungspolitik, die Frauen und Männer adressiert und die schlechten Bedingungen für die Beschäftigten der frühen Bildung und der professionellen Sorgearbeit (insbesondere Frauen) als auch das Wegbrechen traditionell männlich konnotierter Arbeitsplätze berücksichtigt, ergeben sich aus meiner Sicht somit zwei wichtige strategische Ziele: – zum einen die gesellschaftliche Aufwertung der frühkindlichen Bildung und der professionellen Sorgearbeit und zum anderen die Etablierung einer gender- und diversitätsbewussten Öffnung hin zu neuen Personengruppen wie  zum Beispiel Männer, die bisher in diesen Bereichen unterrepräsentiert sind. Das gilt zumal schon deshalb, weil für Berufe im Sozial- und Gesundheitswesen und insbesondere in der frühen Bildung nicht absehbar ist, wie der Fachkräftebedarf gedeckt werden kann ohne bisher unterrepräsentierte Personengruppen hinzuzugewinnen.

Was müsste Ihrer Meinung nach passieren?

Ich spreche jetzt mal nur für den Bereich der frühen Bildung: Es sollten  öffentlichkeitswirksam diejenigen Attraktivitätsfaktoren des Arbeitsfeldes herausgestellt werden, die dafür verantwortlich sind, dass trotz mangelnder Anerkennung, schlechter Bezahlung, belastenden Arbeitsbedingungen und geringen Aufstiegschancen eine hohe Arbeitszufriedenheit beim pädagogischen Personal vorzufinden ist. Zudem sollten systematisch die hier aufgezählten schlechten Bedingungen abgebaut werden, um eine nachhaltige und demografiesensible Erwerbstätigkeit in diesem Arbeitsfeld zu fördern. Auch ist nicht einzusehen, warum Interessierte an einer Ausbildung in diesem Bereich Schulgeld bezahlen müssen. Und nicht zuletzt sollten bundeseinheitlich wissenschaftlich fundierte Qualitätsstandards, die eine hohe Betreuungsqualität mit angemessener Fachkraft-Kind-Relation und Gruppengröße sowie bundeseinheitliche Regelungen zur Ausbildung miteinbezieht, umgesetzt werden.

Abschließend möchte ich aber noch betonen, dass die Bemühungen der letzten Jahre, den Männeranteil im Bereich der Kindertageseinrichtungen (inklusive Schulhorte) zu steigern, ja bereits Früchte tragen. So spricht der aktuelle Fachkräftebarometer im 6. Kapitel „Diversität in der Personalzusammensetzung“ von einem doch mittlerweile deutlich bemerkbaren Wandel und von großer Dynamik in Bezug auf das Thema Männer in Krippe, Kita, Hort und in den entsprechenden Ausbildungsformaten.

Beschaeftigungsverhältnisse in der Kita stabiler als in anderen sozialen Berufen I Link zum Fachkräftebarometer

„Ohne ‚Männer in Kitas‘ hätte es länger gedauert, bis wir – wenn überhaupt – die Frauen benachteiligenden Strukturen der schulischen Ausbildung erkannt hätten.“ I Interview mit Dr. Angela Icken