Der Bau einer Gender-Kita – Geschlechterbewusst von Anfang an

Ein Erfahrungsbericht des Vereins auf der Tenne in Dummerstorf

Dr. Walter Reuter, Projektleiter: "Wir nehmen festen Kurs darauf, ... die Kita als Referenz-Kita für geschlechterbewusste frühkindliche Pädagogik in MV auszubauen." Foto: privat.

Herr Dr. Reuter, Ihr Träger plant im Rahmen des Modellprogramms „MEHR Männer in Kitas“ den Bau einer neuen Gender-Kita. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Männliche Fachkräfte waren in den Kitas des Vereins „Auf der Tenne“ e. V. im Landkreis Rostock immer schon willkommen, Gender ist seit mehr als 10 Jahren ein Thema. In der frühkindlichen Pädagogik wurde „Gender“ oft abstrakt und plakativ und wenig praxisrelevant abgehandelt, in unseren Kitas eher unbewusst praktiziert. Das hat sich in den letzten 5 bis 8 Jahren grundlegend geändert. Es ist ein Verdienst der Initiatoren von „Männer in Kitas“, dass sie die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entwicklung der ganz Kleinen für die frühkindliche pädagogische Praxis produktiv gemacht haben. Ich erwähne als Beispiel nur das Praxisbuch für eine geschlechterbewusste und –gerechte Kindertageseinrichtung, die  im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts „Gender-Loops“ erarbeitet wurden. Da wir als Verein uneingeschränkt das Anliegen „Mehr Männer in Kitas“ vertreten, bewarben wir uns erfolgreich um das Bundesprogramm. Als eines der 16 Modellprojekte haben wir uns umfassend in die theoretischen Grundlagen eingearbeitet und sind dabei, sie in die frühkindliche Praxis umzusetzen. Der Schritt zu einer „Gender“-Kita, übrigens keine völlig neue Idee, war dann nicht mehr so weit. Wenn Sie so wollen, ist der Schuldige in „Mehr Männer in Kitas“ gefunden.

Was zeichnet eine Gender-Kita aus?

Also, zunächst setze ich „Gender“-Kita in Anführungszeichen. Der Begriff macht m. E. wenig Sinn, weil er die Vielfalt der pädagogischen Ansätze auf einen Aspekt reduziert. Unsere Kita wird Alexander von Humboldt-Kita, die „Entdecker-Kita“, heißen. Mit dem Namen verbinden wir u. a. die ungezähmte Lust, unvoreingenommen neue Wahrheiten und Horizonte zu erschließen und sich in Abenteuer zu stürzen. Wir werden mit den kleinen Erdenbürgern in die Geheimnisse von Natur, Gesellschaft und Mensch eindringen, mit ihnen fremde Welten und Kulturen entdecken und Körper und Geist formen. Diesen Anspruch umzusetzen, impliziert geradezu ein geschlechterbewusstes Herangehen. Mensch, Gesellschaft und Natur bestehen nun einmal aus ganz unterschiedlichen weiblichen und männlichen Wesen. Auch im kleinen Kita-Kosmos gibt es Mädchen und Jungen, die unterschiedlich aussehen, die sich unterschiedlich entwickeln, die sich unterschiedlich verhalten. Mädchen und Jungen sollen die Unterschiede verstehen und Achtung vor ihnen entwickeln lernen, um sich in ihrer eigenen Individualität als Mädchen und Jungen allseitig zu entfalten – ungehindert von solchen Klischees wie „Jungen bauen und weinen nicht“, „Mädchen spielen mit Puppen und sind Heulsusen“. Kurzum, wir nehmen festen Kurs darauf, in der neuen Kita den geschlechterbewussten Aspekt im pädagogischen Prozess grundlegend und systematisch zu verankern und die Kita als Referenz-Kita für geschlechterbewusste frühkindliche Pädagogik in Mecklenburg-Vorpommern auszubauen.

Was heißt das nun praktisch?

Die entscheidende Voraussetzung ist, dass die Leitung und das gesamte Team der Kita hinter dem anspruchsvollen Ziel stehen und es offensiv und aktiv vertreten. Für diese Aufgabe werden sie geschult. Mitarbeiter  der Koordinationsstelle ‚Männer in Kitas‘  und Frau Prof. Dr. Musiol von der Hochschule Neubrandenburg haben uns ihre Unterstützung versichert. Für die Schulung des Teams sind 4 Veranstaltungen von jeweils einem halben Tag mit einem Themenspektrum von entwicklungspsychologischen Grundlagen bis zur praktischen Umsetzung einer geschlechtergerechten Pädagogik vorgesehen. Bücher, Dokumente von Konferenzen und Materialsammlungen zum Thema werden wir in einer Bibliothek zusammenfassen. Sie wird den Fachkräften und Interessierten aus dem Umfeld und dem Bundesland zur Verfügung stehen. Wichtig für eine Gender-orientierte Kita ist die räumliche Gestaltung. Wir achten darauf, dass ausreichende Entdeckungs-, Rückzugs- und Bewegungsräume vorhanden sind. Raum ist auch in einer Kita eine finanzielle Frage und daher begrenzt. Ich muss also die vorhandenen Räume möglichst variabel machen, unter anderem durch Paravents und Raumteiler, und sie zudem Platz sparend möblieren. Am besten eignet sich eine Kombination von Regalen und Kisten auf Rädern. Das ist schon der Übergang zu geeigneten Spiel- und Lernmaterialien. Kinder sammeln sehr gern und alles Mögliche und lassen dabei ihrer Phantasie freien Lauf. Die Kisten beispielsweise können sie selbst bestücken. Wir dürfen gespannt sein, ob und wenn ja, wie unterschiedlich Mädchen und Jungen ihre Kisten packen, was und wie sie mit Lego-Education-Steinen zum Thema „Familie“ bauen, wie sich Jungen als Mädchen verkleiden und schminken und umgekehrt, und wir müssen immer das „Warum“ hinterfragen und unsere Einstellung dazu reflektieren. Genau an diesem Punkt beginnt eine bewusste Gender-Arbeit. Es wird also in der Gender-orientierten Kita keine Puppen- und keine Bauecke geben. Mädchen und Jungen können ihre pädagogischen Spiel- und Beschäftigungsmaterialien immer wieder neu wählen. Dazu werden auch Bausteine und Puppen gehören, aber ebenso Ferngläser und Lupen, Wasserwaagen und Reißbretter, Kleider für Prinzessinnen und Ritter, aber auch Kochschürzen und Helme, Krawatten und Westen. Für die gezielte geschlechterbewusste Arbeit mit ihnen enthält die im Rahmen von „MEHR Männer in Kitas – Mecklenburg-Vorpommern“ erstellte „Gender-Box“ viele gute Handlungsempfehlungen. Zur „Gender-Box“ wird in Kürze ein Beitrag auf unserer Projekthomepage www.mehrmännerinkitas-mv.de erscheinen.

Wie weit sind Sie mittlerweile mit dem Bau der Gender Kita? Geht Ihr Konzept, Gender schon beim Bau einer neuen Kita mitzudenken auf, oder sind auch Schwierigkeiten aufgetreten?

Das Baugeschehen schreitet zügig voran.  Wir sind optimistisch, die Alexander von Humboldt-Kita mit „Gender-Orientierung“ im September 2013 eröffnen zu können. Wir sind auch auf einem guten Wege, die Grundlagen einer geschlechtergerechten  Pädagogik in der Kita nicht nur mitzudenken, sondern schon fest in ihre Konzeption zu integrieren. In Zusammenarbeit mit der Projektleitung „Mehr Männer in Kitas – MV“ macht sich die mit der Konzeption betraute Arbeitsgruppe mit dem Leiter der AG Männer die Prinzipien einer geschlechterbewussten Pädagogik zu eigen und die Leiterin der neuen Kita hat die „Gender-Loops-Materialien“ sowie Handbücher für Mädchen- und Jungen-Pädagogik und das Standardwerk von Melitta Walter schon verinnerlicht. Wir sind dabei, das Team zusammenzustellen, auch um alle Fachkräfte vor der Eröffnung der Kita zur „Gender“-Pädagogik zu qualifizieren. Unter den geeigneten Bewerbern ist (noch) kein Mann. Und wir hätten natürlich gern eine Mischung aus weiblichen und männlichen Fachkräften in der neuen Einrichtung. Das ist kein Stolperstein, denn wir tun zwar alles für  mehr Männer in Kitas,  aber eine geschlechterbewusste Pädagogik ist viel, viel mehr.

Was würden Sie anderen Kita-Trägern empfehlen, die sich mit dem Gedanken tragen, eine solche Kita zu bauen? Was sind die ersten Schritte, die ein Träger gehen muss, um solch ein Vorhaben anzustoßen?

Die Idee einer „Gender-Kita“ entsteht ja nicht aus dem Nichts. Ein Träger, der eine solche Kita zu bauen beabsichtigt, wird sich angesichts der hohen Anforderungen an die moderne frühkindliche Bildung zu recht von der Notwendigkeit überzeugt haben, eine geschlechtergerechte Pädagogik als grundlegende Querschnittsaufgabe der pädagogischen Arbeit in ihren Kitas systematisch und bewusst umzusetzen. Für mich ist entscheidend, dass möglichst viele Träger und Fachkräfte eine geschlechterbewusste Pädagogik als Kriterium der Qualität im pädagogischen Prozess erkennen, in ihren Leitbildern und Profilen festschreiben und täglich praktizieren. Aus praktischer Sicht und im Rahmen unserer Möglichkeiten sind wir gern bereit, solche Bemühungen zu unterstützen: Nach ihrer Fertigstellung im Herbst 2013 lädt die Alexander von Humboldt-Kita als „Entdecker-Kita mit Genderorientierung“ Träger, Fachkräfte und Interessenten zu einem Besuch und Meinungsaustausch ein.

Wir danken Ihnen für diesen umfassenden Einblick und wünschen Ihnen für die Umsetzung Ihrer Projekte und Ideen weiterhin viel Erfolg!

Hinweis des Herausgebers: Die Inhalte der Interviews spiegeln nicht immer die genauen Standpunkte der Koordinationsstelle wider.

Kleine Literaturauswahl (Bestandteil der „Gender-Box“)

  1. Krabel, Jens und Michael Cremers (Hrsg.); Gender Loops – Praxisbuch für eine geschlechterbewusste und –gerechte Kindertageseinrichtung, Berlin 2008
  2. Walter, Melitta; Jungen sind anders, Mädchen auch, Kösel-Verlag München 2012
  3. Entdeckungskiste, Zeitschrift für die Praxis in Kitas, Themenheft Jungen und Mädchen, Mai/Juni 2012