„Was sie auf alle Fälle mitnehmen werden, ist mehr Wertschätzung für die sozialen Berufe.“

Im Interview gibt Martina Taylor jede Menge Anregungen aus zwei Initiativen, die über den Boys‘ Day hinausgehen, um Jungen für die sogenannten SAGE-Berufe (Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege, Erziehung und Bildung) zu interessieren.

Foto: privat.

Martina Taylor ist Projektleiterin „Soziale Jungs SoKo“ beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband e.V. in Frankfurt/Main, der Fort- und Weiterbildungen für Multiplikatoren/innen in der sozialen Arbeit anbietet, beispielsweise für Erzieher/innen sowie Berater/innen im Eltern- und Familienbereich, in der Eltern- und Familienbildung sowie interkulturellen Bildung.

Der Paritätische Bildungswerk Bundesverband e.V. unternimmt ja nicht nur einmal im Jahr zum Boys' Day etwas, um Jungen für SAGE-Berufe zu interessieren. Er hat ja auch das Projekt „Soziale Jungs“ initiiert. Könnten Sie uns darüber etwas sagen?

Das Projekt Soziale Jungs wurde schon 2005 initiiert, damals noch im Rahmen eines Bundesmodellprojekts für generationsübergreifende Freiwilligendienste, und zwar an drei unterschiedlichen Standorten: in Frankfurt/Main, Potsdam und Saarbrücken. Hier ging es darum, dass Jungen einen Freiwilligendienst in sozialen Berufen absolvieren können, um ihnen die Möglichkeit zu bieten, über den Tellerrand hinauszuschauen und geschlechtsuntypische Arbeitsbereiche kennenzulernen. Außerdem stärkt das freiwillige Engagement die sozialen Kompetenzen. Es ist für die meisten Jungen ja auch eine tolle Erfahrung, wenn sie erleben, dass sie etwas Positives bewirken können, indem sie zum Beispiel anderen helfen.

Das Projekt lief über drei Jahre und weil es sehr gut angenommen wurde, haben wir uns immer wieder um eine weitere Projektförderung bemüht. Der Kern des Projekts war dabei immer derselbe, nämlich das freiwillige Engagement von Jungen in sozialen Einrichtungen, nur die Schwerpunkte und der Rahmen haben sich geändert. Von 2009 bis 2012 zum Beispiel hatten wir das Projekt „Soziale Jungs Multikulti“ und der Schwerpunkt war es, Jugendliche mit Migrationshintergrund für den Freiwilligendienst zu gewinnen, da viele gerade dieser Jugendlichen benachteiligt waren und so ihre Chancen verbessert wurden. Soziale Jungs Multikulti wurde vom damaligen Hessischen Ministerium für Justiz, für Integration und Europa gefördert.

Beim aktuell laufenden Projekt „Soziale Jungs SoKo“ steht die berufliche Orientierung als möglicher Einstieg in eine Berufsausbildung im Vordergrund. Gefördert wird es vom Jugend- und Sozialamt der Stadt Frankfurt. Die Jugendlichen engagieren sich 80 Stunden in einer Kita, im Seniorenzentrum oder im Krankenhaus, bekommen eine kleine Aufwandsentschädigung und erhalten am Ende einen Kompetenznachweis. Es gibt eine pädagogische Begleitung von freiwilligen Mentorinnen und Mentoren.

Da das Projekt anfangs eher schleppend lief, weil immer weniger Schüler die Zeit für ein freiwilliges Engagement nach der Schule hatten, haben wir das Konzept gemeinsam mit dem Jugend- und Sozialamt überarbeitet und die Zielgruppe auf ältere, also junge Männer bis 26 Jahre, ausgeweitet. Der Schwerpunkt liegt bei der Berufsorientierung und wir möchten erreichen, dass sich die Jungen in einem sozialen Berufsfeld ausprobieren können. Das ist eine wichtige Basis für eine spätere Entscheidung für oder gegen einen Beruf.

Wie haben Sie es geschafft, Jungen in diesem Alter für freiwillige Arbeit in einer sozialen Einrichtung zu gewinnen? 

Grundsätzlich kann man sagen, dass die Jugendlichen eine große Neugier mitbringen und aufgeschlossen und motiviert sind, wenn es darum geht, dass sie sich ausprobieren können. Sie möchten sich ja selbst entdecken und erfahren, wo ihre Stärken liegen. Wir haben die Jugendlichen befragt, warum sie beim Projekt mitmachen und dabei kam heraus, dass die meisten einfach gerne etwas Sinnvolles tun und anderen helfen möchten. Um trotzdem noch einen kleinen Anreiz zu setzen, bekommen sie ein kleines Taschengeld und natürlich am Ende einen Kompetenznachweis. Obwohl viele der Jugendlichen das Projekt bis zum Ende durchziehen, gibt es auch Abbrecher. Gründe dafür sind zum Beispiel Änderungen im Stundenplan oder Training unter der Woche. Und es sind auch Jungen dabei, die bald merken, dass die Tätigkeit ihnen nicht liegt oder dass sie andere Erwartungen gehabt haben.

Wenn die Jungen so aufgeschlossen sind – was passiert denn, dass sie den Beruf dann doch häufig nicht ergreifen?

Naja, es geht für die Jungen in erster Linie darum auszuprobieren, wo sind meine Kompetenzen, wie kann ich im Team arbeiten, was sind Pflegeberufe, was ist soziale Arbeit? Mit wem habe ich es da zu tun, mit welchen Leuten arbeite ich dort zusammen und was mache ich da konkret? Man kann natürlich nicht erwarten, dass jeder, der sich im Projekt engagiert,  Erzieher oder Altenpfleger werden möchte. Es gibt ja auch Jungen, die hatten schon eine feste Vorstellung von dem, was sie beruflich machen wollen, aber haben jetzt eben einen sozialen Beruf kennengelernt, wissen mehr darüber und haben jetzt eine Option mehr. Wir möchten natürlich gerne, dass sich auch mehr Jungen für die sogenannten Care-Berufe entscheiden, aber nicht jeder bringt die Fähigkeiten dafür mit. Und die, die den Beruf dann tatsächlich erlernen wollen, bei denen kann man davon ausgehen, dass sie wirklich mit dem Herzen dabei sind. Was bei diesen Berufen sehr wichtig ist!

Dadurch, dass die Jungen sich in einer Einrichtung ausprobieren können, erfahren sie manchmal auch, dass es ganz schön anstrengend sein kann. Ich habe mit einigen gesprochen, die zum Beispiel meinten, es wäre ganz fürchterlich laut in der Kita. Sie bekommen auf jeden Fall eine realistischere Vorstellung von dem Beruf und sind dann frei zu überlegen, ob das eine Option für sie ist oder nicht. Was sie auf alle Fälle mitnehmen werden, ist mehr Wertschätzung für die sozialen Berufe.

Wie halten Sie die Schüler bei der Stange?

Es gibt mehrere Anreize. Eine Rolle spielt dabei sicher das Taschengeld, das heißt für die insgesamt 80 Stunden erhalten die Jungen 120 Euro. Zudem findet einmal im Monat ein pädagogisches Begleittreffen statt, also ein Gruppentreffen, zu dem wir die Jungs einladen und dann gemeinsam etwas unternehmen, zum Beispiel zusammen kochen oder einen Besuch im Kletterpark machen. Wir haben vier freiwillige Mentoren/innen im Projekt, die diese Treffen organisieren und Anprechpartner/innen für die Jungs sind. Auch diese gemeinsamen Gruppentreffen stellen eine Anerkennung für das Engagement der Jungen dar. Dann gibt es wie gesagt noch den Kompetenznachweis am Ende des Projekts. Wenn die Jugendlichen das Projekt abgeschlossen haben, bitten wir die Einrichtung um ein Feedback, wo die Schüler besondere Kompetenzen gezeigt haben. Dieses Feedback bauen wir in den Kompetenznachweis mit ein. Das ist eine sehr schöne Sache, weil sie mit Wertschätzung verbunden ist und die Jugendlichen haben zugleich einen Nachweis in der Hand, den sie zum Beispiel bei Bewerbungen vorlegen können.

Das ist ja nicht alles, was der Paritätische Bildungswerk Bundesverband e.V. unternimmt. Zum Boys' Day führen Sie auch die Aktion „Sozialparcours“ durch. Was machen Sie da?

Die Idee ist aus dem „Sozialen Tag für Jungen“ entstanden, den wir in Frankfurt schon 2006 ins Leben gerufen haben und der im Prinzip eigentlich ein lokaler Boys’ Day war. Wir haben da schon parallel zum Girls‘ Day Schüler in soziale Einrichtungen vermittelt und am Nachmittag eine After-Work-Party angeboten, zu der wir die Jungen, die vormittags in Kitas, Krankenhäusern und Altenpflegeheimen waren, eingeladen haben. Ziel war dabei, die Erfahrungen der Schüler nochmal aufzugreifen und zu vertiefen, zum Beispiel indem wir eine Interviewrunde mit männlichen Erziehern gemacht haben. Bei der After-Work-Party informierten wir aber auch über das Projekt Soziale Jungs und konnten einige dafür gewinnen, die durch den „Sozialen Tag für Jungen“ auf den Geschmack gekommen sind.  Seit es den Boys’ Day bundesweit gibt und die Vermittlung von Plätzen über ein zentrales Internetportal läuft, bieten wir mit dem Sozialparcours in Frankfurt ein eigenes Angebot mit 100 Plätzen für Schüler am Boys’ Day an.

Bei der Konzepterstellung war uns wichtig, Jugendliche spielerisch an die SAGE-Berufe heranzuführen, sodass ihre Neugier geweckt wird und sie ganz praktisch erleben und ausprobieren können, was typisch für einzelne Berufsfelder ist. Man muss sich den Sozialparcours so vorstellen, dass Einrichtungen aus verschiedenen Bereichen vertreten sind und an mehreren Stationen verschiedene Mitmach-Aktionen für die Schüler anbieten.

Was sind das für Aktionen?

Die Katharina Kasper-Kliniken haben beispielsweise angeboten, Blutdruck zu messen und einen Verband anzulegen. Das Bildungszentrum Altenpflege des Frankfurter Verbands hat ihnen gezeigt, wie man Hände desinfiziert und anschließend konnten die Jungen mit einem UV-Licht-Koffer prüfen, wie viel Bakterien noch verblieben sind. Die waren schon ziemlich beeindruckt! Am Stand der Praunheimer Werkstätten konnten die Schüler eine Art Quiz machen, da ging es zum Beispiel darum, Begriffe in „einfache Sprache“ zu übersetzen. Der Evangelische Verein für Jugendsozialarbeit in Frankfurt e.V. bot eine Haushaltsrallye an, um die Jungen in ihrer Selbstständigkeit zu fördern. Viele haben dort das erste Mal in ihrem Leben einen Knopf angenäht und sind zukünftig in der Lage, das alleine zu tun.

Auch der Sozialverband Hessen-Thüringen war in diesem Jahr wieder vertreten. Hier geht es weniger um berufliche Orientierung, sondern darum, die Schüler für den Umgang mit alten Menschen und Menschen mit Beeinträchtigung zu sensibilisieren. Beim Inklusionsparcours können die Jungen ausprobieren, im Rollstuhl mal einen Slalom zu fahren oder sich mit dem Blindenstock voran zubewegen. Sie erhalten so die Möglichkeit, sich in die Rolle von alten oder Menschen mit Beeinträchtigungen hineinzuversetzen. Denn wenn sie einen sozialen Beruf ergreifen, dann werden sie es ja mit eben diesen Menschen zu tun haben und sollten sich in diese einfühlen können. Auch von unserem Projekt „Soziale Jungs“ hatten wir einen Stand, an dem wir natürlich über das Projekt informiert haben. Dieses Jahr hatten wir uns entschieden, uns ein paar Tremor-Simulationshandschuhe zuzulegen und die Schüler durften ausprobieren, wie schwierig es ist, mit zitternden Händen eine Unterschrift zu tätigen oder einen vollen Becher zu halten.

Damit alle Stationen durchlaufen werden, drücken wir den Jungs gleich zu Beginn einen Fragebogen in die Hand. Sie müssen dann im Laufe des Parcours die Fragen beantworten und sich von jeder Station abstempeln lassen. Wer den Fragebogen abgibt, bekommt ein Los für die Tombola am Ende der Veranstaltung.

Was bieten Sie neben den Aktionen noch an?

Viele Einrichtungen bringen ihre Azubis mit, was wirklich toll ist, da die nochmal einen ganz anderen Zugang zu den Schülern haben und sie auch gleichzeitig so etwas wie ein Role-Model für sie sind. Nach dem Durchlaufen des Sozialparcours, der rund zwei Stunden dauert, folgt dann noch ein Programm mit Live-Musik, ein Interview mit Azubis und Mitarbeitenden der vorgestellten Care-Berufe und die Tombola.

Übrigens laden wir auch Lehrkräfte mit ein, für die wir ein Info-Café eingerichtet haben. Dort legen wir Infomaterial zur Förderung der Berufs- und Lebensplanung für Jungen aus, das zum Beispiel das Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V. zur Verfügung stellt sowie Materialien zur Vor- und Nachbereitung des Boys’ Day. Erfreulicherweise sind immer wieder auch Lehrer/innen dabei, die den Boys’ Day als Angebot nutzen, um mit ihren Schülern das Thema Geschlechtsrollenstereotypen aufzugreifen und zu bearbeiten.

Was müsste Ihrer Meinung nach passieren, damit mehr Jungen eine Ausbildung in einem erzieherischen, pflegerischen oder sozialen Berufe ergreifen?

Ich denke, es ist wichtig weiter daran zu arbeiten, die einschränkenden Geschlechterstereotypen aufzubrechen und die Vielzahl an Möglichkeiten aufzuzeigen, die die Berufswelt bietet. Also aufzuzeigen, dass es auf die eigenen Fähigkeiten und Interessen ankommt, und dass das Geschlecht dabei keine Rolle spielt. Dass es keine „Frauenberufe“ oder „Männerberufe“ gibt, sondern dass jede und jeder genau das tun kann, was sie oder er gerne macht und die persönlichen Voraussetzungen dafür mitbringt, die keineswegs vom Geschlecht abhängen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist es, den Jungen die Möglichkeit zu bieten, sich selbst auszuprobieren, damit sie ihre eigenen Fähigkeiten einschätzen können.

Auch wäre es bestimmt sehr förderlich, wenn diejenigen, die mit Schülern im Kontext von Berufsberatung oder Berufsorientierung zu tun haben, ihre eigene Haltung bestimmten Berufen gegenüber hinterfragen und auf Rollenklischees und Vorurteile abklopfen, um damit nicht unwillentlich Wege zu verbauen. Bliebe noch das Argument, soziale- und Pflegeberufe besser zu entlohnen. Ich persönlich bin sehr dafür, dass sogenannte Care-Berufe die Wertschätzung erfahren, die sie verdienen, was sich auch in angemessenen Gehältern widerspiegeln muss, um sie für alle – für Jungen und Mädchen – attraktiver zu machen. Eine gute Ausbildungsvergütung würde sicher ebenfalls dazu beitragen.