Praxis in Neuseeland

„Heute verfügen Kindertageseinrichtungen über Reglements und Schutzkonzepte, um Missbrauch zu verhindern … Trotzdem höre ich immer noch vereinzelt Geschichten über Kita-Leitungen, die ihrem männlichen Personal nicht erlauben, Kindern die Windeln zu wechseln“, so Sarah-Eve Farquhar, Vorstandsvorsitzende des ChildForum aus Neuseeland.

Frau Farquhar, wie sieht die Situation männlicher Erzieher in Neuseeland aus?

Vor 20 Jahren lag der Anteil der Männer, die in der frühkindlichen Erziehung und Bildung arbeiteten bei über zwei Prozent. Männer und Frauen lebten eher traditionelle Geschlechterentwürfe, aber jeder Mann, der in der Kinderbetreuung arbeiten wollte, wurde akzeptiert. Zur damaligen Zeit wurde die Kinderbetreuung noch weniger formal und mehr familienorientiert organisiert, so dass in den Kindertageseinrichtungen neben einigen männlichen Erziehern auch noch Ehemänner und Freunde anzutreffen waren, die bei Reparaturen aushalfen, Glühbirnen wechselten, mit den Jungen Karten spielten und Geschichten vorlasen.

In den darauffolgenden zehn Jahren halbierte sich der Männeranteil auf weniger als ein Prozent. Für den Rückgang sind mehrere Gründe verantwortlich. In den frühen 1990ern wurde sexuelle Gewalt an Frauen stark thematisiert (in diesem Zusammenhang wurde beispielsweise in jedem Mann ein potentieller Vergewaltiger gesehen). In dieser Zeit wurden zwei Fälle von Kindesmissbrauch durch männliche Erzieher in Kindertagesstätten bekannt. Aufgrund dieser beiden Fälle wollten viele Kitaträger-Verantwortliche keine männlichen Erzieher mehr beschäftigen. Manche männliche Erzieher gaben ihren Beruf auf und suchten sich einen anderen Job, weil sie befürchteten, sie könnten fälschlicherweise des sexuellen Missbrauchs verdächtigt werden. In dieser Zeit wurden nicht nur Männer mit sexuellem Missbrauch in Verbindung gebracht, auch die Qualifikationsanforderungen bei der Einstellung von Erziehern und Erzieherinnen stiegen und die Anforderungen an die Erzieher/innenausbildung wurden erhöht, so dass Männer ohne fachliche Qualifikation nicht mehr ohne Weiteres in Kindertageseinrichtungen (mit)arbeiten konnten. Weiterhin gelang es der sehr starken Frauenbewegung in Neuseeland ihre Forderung nach einer verbesserten finanziellen Ausstattung und Ausweitung der Kindertagesbetreuung durchzusetzen. Eine verbesserte Kindertagesbetreuung sollte mehr Müttern die Aufnahme einer entlohnten Beschäftigung ermöglichen. Gleichzeitig führte dies aber auch dazu, dass viele Jobs für Frauen in den Kindertageseinrichtungen entstanden.

In der öffentlichen Debatte wird der Tatsache, dass Frauen in der frühkindlichen Erziehung überwiegen und es nur wenige männliche Erzieher gibt, nur wenig Beachtung geschenkt. Im öffentlichen und politischen Diskurs überwiegt die Frage, wie Frauen für Männerberufe gewonnen werden können – die Bemühungen gelten besonders der Förderung von mehr Frauen in Führungspositionen. In Neuseeland ist die Durchführung wissenschaftlicher Studien im Bereich „Männer in der Elementarpädagogik“ schwierig, da nur sehr wenige Männer im Bereich der Elementarpädagogik arbeiten und diese, in einem Land mit geringer Bevölkerung, geographisch über viele Städte und Regionen verstreut sind. Neuseeland mangelt es an glaubwürdiger Forschung in diesem Bereich, um Politikern zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, Maßnahmen zur Erhöhung des Anteils männlicher Fachkräfte in Kitas zu finanzieren und auch die dafür notwendigen Gesetzesänderungen anzustoßen.

In Deutschland sind männliche Erzieher sehr erwünscht, auch wenn sie mit dem Thema „Sexueller Missbrauch“ gedanklich in Verbindung gebracht werden. Spielt dieser Generalverdacht heute in Neuseeland noch eine Rolle?

Der Generalverdacht spielte in den 1990ern eine Rolle. Aber Männer, die Kinder betreuen und Erzieher sowie Erzieherinnen, die körperlichen Kontakt mit Kindern haben, werden heutzutage weniger hysterisch betrachtet. Nach den beiden Fällen sexuellen Missbrauchs in den frühen 1990ern sind keine weiteren (vergleichbaren) Missbrauchsfälle mehr bekannt geworden.

Heute verfügen Kindertageseinrichtungen über Reglements und Schutzkonzepte, um Missbrauch zu verhindern. Eltern heißen mittlerweile männliche Erzieher als Beschäftigte in den Kindertageseinrichtungen ihrer Kinder willkommen. Auch das Verhalten von Vätern hat sich verändert. Väter nehmen mittlerweile viel engagierter am Leben ihrer Kinder teil und das hat wohl dazu geführt, dass Eltern (und Großeltern) männliche Erzieher als wichtig für ihre Kinder erachten.

Den meisten Kita-Leitungen und Erzieherinnen geht es gut damit, einen männlichen Erzieher zu beschäftigen. Trotzdem höre ich immer noch vereinzelt Geschichten über Kita-Leitungen, die ihrem männlichen Personal nicht erlauben, Kindern die Windeln zu wechseln.

Die Elementarpädagogik in Neuseeland hat durch die Entwicklung eines nationalen Curriculums sowie durch pädagogische Konzepte wie das der Bildungs- und Lerngeschichten internationale Aufmerksamkeit gefunden. Welche Rolle spielen Geschlechterfragen in Diskussionen zu pädagogischen Konzeptionen in Neuseeland?

Das ist eine interessante Frage, die wir bei der Aus- und Weiterbildung von Erzieher/innen behandeln sollten, denn heute werden Gender-Fragen bei der Diskussion um Ausbildungs- Curricula nur selten thematisiert. In den späten 1980ern und 1990ern war im Bereich der Pädagogik die Überwindung stereotyper Geschlechterrollen ein großes Thema – Mädchen wurden ermutigt sich als Feuerwehrmann zu verkleiden, mit Autos zu spielen, mit Hämmern Nägel in Bretter zu schlagen und solche Sachen. Erzieher/innen lasen und diskutierten psychologische Literatur über die Entstehung stereotyper Geschlechterrollen und beurteilten die Spielumgebung danach, ob sie Jungen und Mädchen gleichermaßen zugutekam. Wahrscheinlich wird in Neuseeland davon ausgegangen, dass unser frühkindliches Bildungsprogramm Mädchen und Jungen gleichermaßen im Blick hat und fördert. Ich gehe davon aus, dass Erzieher/innen, die die Lern- und Bildungsgeschichten der Kinder begleiten, es wahrscheinlich nicht für notwendig erachten, die Lern- und Entwicklungsschritte der Kinder unter Gender-Aspekten analysieren.

Aber die Mehrheit derjenigen, die das Bildungsprogramm für frühkindliches Lernen erstellen, sind Frauen – wie sollte es da vom Geschlecht unbeeinflusst sein? Neuseelands Männer, die in der Elementarpädagogik arbeiten, haben jetzt eine Gruppe bei Facebook gegründet und ich habe mit großem Interesse ihre Diskussionen verfolgt, in denen es um Gender Differenzen in der Sprache ging (beispielsweise kann es vorkommen, dass Erzieherinnen sich daran stören, wenn ihre männlichen Kollegen die Kinder „Kumpel“ (Original: mates) nennen – „Mates“  ist ein in Australien und in Neuseeland gebräuchliches Wort, um einen (männlichen) Freund  zu grüßen „Hi Kumpel, wie geht´s?) oder um Gender Differenzen bei der Ausgestaltung des Bildungsprogramms (zum Beispiel, welche Musik mögen Männer und Frauen).

In Neuseeland haben die Jungen in Schulen mittlerweile schlechtere Noten als die Mädchen und angesichts dessen, dass immer mehr Kinder Kindertageseinrichtungen besuchen und die Kinder dort auch immer mehr Zeit verbringen, muss die Elementarpädagogik Genderfragen mehr Aufmerksamkeit schenken.

Vielen Dank für das Interview!