Boys‘ Day – einfach einen Beruf ausprobieren, ohne sich was anhören zu müssen.
Romy Stühmeier ist Erziehungswissenschaftlerin mit langjähriger Erfahrung im Bildungsbereich und in der Bildungspolitik mit dem Schwerpunkt Chancengerechtigkeit, Diversität und Digitalisierung. Seit Anfang 2016 ist sie beim Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V. und dort Projektleiterin des bundesweiten Netzwerks und Fachportals zur Berufswahl und Lebensplanung von Jungen (NWfJ) und des Boys' Days (BD), darüber hinaus ist sie für Projektentwicklungen im Bereich Digitalisierung und Bildung verantwortlich. Das Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V. fördert bundesweit die Chancengleichheit von Frauen und Männern. Es bündelt Expertise aus Forschung und Praxis für die Anerkennung von Vielfalt als Erfolgsprinzip in Wirtschaft, Gesellschaft und technologischer Entwicklung. Im Interview reflektiert sie über die Chancengleichheit von Jungen und Mädchen im Übergang von Schule in die Ausbildung.
Das Kompetenzzentrum fördert die Chancengleichheit von Frauen und Männern, u.a. organisieren Sie auch den Boys' Day. Wie hat sich der Boys Day seit 2011 entwickelt?
Zunächst möchte ich daran erinnern, dass der Boys' Day aus einer langjährigen Zusammenarbeit mit Partner/innen aus dem Bereich der Jungenarbeit erwachsen ist. Das Netzwerk Neue Wege für Jungs (NWfJ), in dem sich auch die Koordinationsstelle ‚Chance Quereinstieg/Männer in Kitas‘ engagiert, ist 2005 initiiert worden. Das Netzwerk unterstützt die Arbeiten der Bundeskoordinierungsstelle BD | NWfJ. Der Boys' Day hat seit 2011 genau 37.678 Angebote und 224.363 Plätze zur Berufsorientierung für Jungen ab der 5. Klasse anbieten können. 2017 war bisher das stärkste Jahr. Mit 6.735 Veranstaltungsangeboten hat es eine neue Rekordbeteiligung seitens der Einrichtungen und Unternehmen gegeben. Von diesen Angeboten sind rund 1.500 Angebote barrierefrei. Auch hier sehen wir ein stärkeres Bewusstsein für Inklusion seitens der Anbietenden. An dieser Stelle möchte ich einen großen Dank an alle Netzwerkpartner/innen für die vertrauensvolle und langjährige Zusammenarbeit aussprechen.
Hat der Boys' Day bereits erkennbaren Einfluss auf die Berufswahl der Jungen genommen?
Unsere Evaluationsergebnisse zeigen, dass der Boys' Day für annähernd zwei Drittel, also 63 Prozent der teilnehmenden Jungen eine hilfreiche Berufsorientierung bietet. 27 Prozent können sich sogar vorstellen, in dem kennengelernten Beruf später zu arbeiten. Wenn wir uns die Zahlen für den Ausbildungsberuf Erzieher/in und Altenpfleger/in anschauen, sehen wir gute Entwicklungstrends: In der Erzieher/innen Ausbildung sehen wir einen Zuwachs an männlichen Auszubildenden von plus 25 Prozent, in den Schuljahren 2012/13 waren es 15,7 Prozent und 17 Prozent waren es in 2015/16. In der Altenpflegeausbildung ist ein Zuwachs von 20 Prozent zu verzeichnen. Hier haben laut Bundesamt für Statistik |Berufliche Bildung im Schuljahr 2015/16 insgesamt 15.419 Jungen und junge Männer mit der Ausbildung begonnen.
Auch in den Studiengängen Psychologie und Grundschullehramt, in denen mehrheitlich noch Frauen studieren, zeichnen sich Entwicklungen ab. Im Fachbereich Psychologie ist ein Zuwachs an männlichen Studierenden von 35 Prozent für das Wintersemester 15/16 zu verzeichnen. Für Grundschul-/Primarstufenpädagogik sind es sogar 52 Prozent.
Können Sie für uns etwas zur Situation von Jungen im Übergang Schule-Beruf erzählen?
Die letzte Pisa-Studie von 2015 zeigt, dass sich die Leistungen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften nur graduell unterscheiden: Die Leistungsrückstände variieren zwischen drei und sechs Monaten. Das sind relativ geringe Zeitspannen, die im Hinblick auf die Adoleszenz, einer Zeit massiver Veränderungen im Leben und Lernen von Schülerinnen und Schülern, keine pauschale Zuschreibung oder Negation von Fähigkeiten in Abhängigkeit vom Geschlecht begründen. Jungen und Mädchen erreichen inzwischen durchschnittlich höhere Bildungsabschlüsse als jemals zuvor.
Obwohl sich die Leistungen von Mädchen und Jungen in den untersuchten Bereichen gar nicht so sehr unterscheiden wie oft behauptet wird, zeigt sich dennoch bei der Fächerwahl in der Schule eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung. Unabhängig von den tatsächlichen Leistungen entscheiden sich deutlich mehr Jungen als Mädchen etwa für Informatik (83%) und Physik (75%) und umgekehrt wählen viel mehr Mädchen die Fächer Psychologie/Pädagogik (80%) oder Französisch (77%). Annähernd paritätische Verteilung gibt es dagegen in Mathematik (47% Mädchen, 53 % Jungen), Geschichte (48% Mädchen, 52 % Jungen), Wirtschaft, Verwaltung, Recht (46% Mädchen, 54 % Jungen). Es zeigt sich bereits in der schulischen Entwicklung eine Vorstufe der späteren beruflichen Segregation. Die ähnlich guten Leistungen von Mädchen und Jungen finden sich nicht in der Wahl ihrer Schwerpunktfächer wieder.
Auch internationale Vergleiche belegen, dass Geschlechterunterschiede bei fachlichen und beruflichen Interessen nicht biologisch bedingt sind, sondern durch „kulturelle Prägung“ entstehen. Ein Beispiel aus der OECD Statistik 2014 zu männlichen Lehrkräften im Grundschulbereich belegt, dass in Deutschland 13 Prozent der Lehrkräfte männlich sind, in den USA 33 Prozent, in Großbritannien 41 Prozent, in Indonesien 46 Prozent, in der Schweiz 46 Prozent und in den Niederlanden 49 Prozent. Bis weit in die 1960er-Jahre hinein war in Deutschland die Mehrzahl der Lehrkräfte an Grundschulen männlich.
Wie können die Schulen Jungen auf einen vielfältigen Arbeitsmarkt vorbereiten – das ganze Jahr über und nicht nur am Aktionstag?
Zunächst finde ich es wichtig, dass Lehrkräfte selber über die Vielfältigkeit des Arbeitsmarktes, insbesondere im Zuge der Digitalisierung in allen Berufsbranchen, Kenntnis haben und zweitens sich selbst und ihr Verhalten stets geschlechtssensibel reflektieren und stereotypes Verhalten erkennen, um Chancengerechtigkeit im Klassenzimmer zu gewährleisten. Es beginnt also bei der eigenen Haltung. Hier wünsch ich mir, dass Lehrkräfte mehr Zeit für Fortbildungen, Teamaktivitäten im Kollegium sowie gemeinsame Hospitationen in der Praxis erhalten. Vergleicht man international die Unterrichtsstunden, dann liegt laut OECD Studie der Schnitt bei 707 Unterrichtsstunden pro Jahr; in Deutschland werden 758, also sieben Prozent mehr, unterrichtet. Das entspricht, umgerechnet auf 45-Minuten-Stunden, einem Deputatsunterschied von knapp zwei Stunden/Woche (27 statt 25). Hier sehe ich einen Ansatz, den es politisch zu diskutieren lohnt. Dies würde auch dazu beitragen, den Unterricht und die schulische Berufsorientierung an den Lebenswelten der Schüler/innen auszurichten. Damit ist gemeint, dass Bildungsangebote verstärkt auch außerschulische Kontexte und persönliche Beziehungen berücksichtigen und auf diese Weise über formalisierte Lernanlässe hinausgehen sollten. Forschungen haben gezeigt, dass für Jungen diese Art von Bildungsprozessen bedeutsam scheinen. Eine entsprechende Didaktik würde die Anschlussfähigkeit an persönliche Interessen und Erfahrungen, die Einbeziehung von aktions- und bewegungsorientierten Formaten berücksichtigen. Sie würde gemeinschaftliche Aktivitäten fördern und einen Bezug zu Menschen, die als authentisch erlebt werden, ermöglichen. Kurz gefasst: Erfolgreiche Lernanlässe berücksichtigen sowohl formale, non-formale und informelle Erfahrungen, Kenntnisse und erworbene Kompetenzen.
Machen Schulen da genug oder gibt es noch Luft nach oben?
Meines Erachtens geht es nicht um genug oder zu wenig. Das möchte ich mir an dieser Stelle auch nicht anmaßen zu beurteilen. Anhand der internationalen Vergleiche ist aber zu erkennen, dass wir in Deutschland zum Thema Geschlechterunterschiede bei fachlichen und beruflichen Interessen verstärkt den Faktor der kulturell verankerten Geschlechterstereotypen thematisieren müssen. Wir beobachten wie schon formuliert, dass sich Mädchen immer noch mehr für Fächer wie Pädagogik und Sprachen interessieren und die Jungen Informatik oder Physik wählen, obwohl sie ebenfalls gut in Deutsch sind oder gute Leistungen zeigen in Sprachfächern. Da wünschen wir uns, dass die Schulen die Jungen aufgrund ihrer Leistungen motivieren würden, andere Fächerkonstellationen zu wählen.
Wir haben Jungen ein halbes Jahr nach dem Aktionstag zu ihren Berufsinteressen befragt und mussten feststellen, dass der Schulunterricht und die öffentliche Diskussion eher dazu beitragen, Boys’ Day-Berufswünsche zu verwerfen. Während die Eltern der Boys’ Day-aktiven Jungen und ihre Peers unterstützend wirken!
Wichtig in diesem Zusammenhang finde ich, dass die Schulen Lernräume schaffen, in denen erfahrbares Lernen möglich ist. Sie sollte sich ebenso als lernende Organisation verstehen. Dieses Verständnis von Schule hat meines Erachtens noch Potenzial zu wachsen und gelebt zu werden. Es spiegelt aber den gesellschaftlichen Wandel, den wir durch die Digitalisierung ganz konkret und unumstößlich durchlaufen, wider und der auch unser Bildungsverständnis sowie die Vermittlung und Aneignung von Wissen einschließt.
Verstehen die Jungen den Hintergrund und Ziele des Aktionstages oder ist er einfach ein must-go? Kommt der Boys' Day in der Regel gut an?
Der Boys' Day und Girls' Day sind freiwillige Angebote und setzen daher auf das Interesse der Jungen und Mädchen selbst. Unsere Evaluation zeigt eine hohe Zufriedenheit bei den Jungen zum Aktionstag. 97 Prozent der teilnehmenden Jungen sind zufrieden bis sehr zufrieden mit dem Boys' Day. Aber auch die teilnehmenden Einrichtungen und Unternehmen sind mit 84 Prozent hoch zufrieden mit dem Aktionstag. Bei 85 Prozent von ihnen zeigten die Jungen großes Interesse und Engagement und weitere 73 Prozent berichten von positiven Rückmeldungen der Beschäftigten, die mit den Jungen direkt zu tun hatten.
Interessieren sich im Vergleich mehr Mädchen für MINT-Berufe als Jungen für die sogenannten SAGE-Berufe?
In beiden Projekten sehen wir eine steigende Nachfrage bei den Jungen und Mädchen. Im Rahmen unserer Online-Befragung, die wir vor und unmittelbar nach den Aktionstagen durchgeführt haben, meldeten uns beide Gruppen zurück, wie sehr ihnen diese Berufe/Tätigkeiten Spaß gemacht haben. Im Bereich Pflege, Erziehung und Soziales kann der Boys’ Day bei den teilnehmenden Schülern also punkten, wie es auch ein Junge zum Ausdruck bringt: „Der Tag war super und ich kann mir gut vorstellen, ein Freiwilliges Soziales Jahr nach dem Abi im Pflegeheim zu machen“. Jungen wie Mädchen fühlen sich in den kennengelernten Berufen willkommen und sie sagen beide aus, dass die Berufe abwechslungsreicher seien, als sie es zuvor angenommen hatten. Ebenso bewerteten sie die Aufstiegschancen in den kennengelernten Berufen nach dem Aktionstag deutlich positiver als zuvor.
Was ist DAS Argument, Jungen von einem Beruf im pflegerischen, sozialen oder erzieherischen Umfeld zu interessieren?
Hier möchte ich mit einem Zitat eines Jungen antworten, der am Boys' Day 2017 teilgenommen hat: „Den Boys' Day fand ich echt cool, weil man die Chance hat, einfach einen Beruf auszuprobieren, der eigentlich nicht zu einem passt, ohne sich irgendwas anhören zu müssen“.
Ergänzend möchte hinzufügen, dass diese Berufe zukunfts- und krisensicher sind und ein großes Potenzial bieten, sich zu spezialisieren, sprich sich weiterzubilden. Denn der jeweilige Beruf endet ja nicht mit der Ausbildung. Über die weiteren beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten wird mir definitiv zu wenig in der Öffentlichkeit gesprochen.
Was müsste Ihrer Meinung nach passieren, damit mehr Männer ihren Weg in erzieherische, pflegerische und sozialen Berufe finden?
Wenn wir sowohl Frauen als auch Männer für diese Arbeiten begeistern wollen, dann müssen wir die Berufe aufwerten. Durch gesellschaftliche Anerkennung und einer gerechten Entlohnung. Mit der Erhöhung des Mindestlohns für Pflegekräfte, der bis Anfang 2020 in mehreren Schritten auf 11,35 Euro pro Stunde im Westen und 10,85 Euro im Osten angehoben wird, ist ein weiterer Schritt in diese Richtung erfolgt. Gesellschaftlich wünsche ich mir eine breitere Diskussion über das Thema Rollenverständnis von Männern und Frauen. Insbesondere das Thema Care Arbeit, Rückkehrrecht aus Teilzeit, Lohngerechtigkeit und das Ein-Ernährermodell sind gesellschaftlich und politisch stärker auf die Tagesordnung zu holen. Insbesondere in den Medien wünsche ich mir hierzu eine stärkere Diskussion und ein differenzierteres Bild unserer bereits gelebten Gesellschaft. Es gilt, sich von überholten Geschlechterstereotypen zu verabschieden und stattdessen die individuellen Fähigkeiten und Interessen der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Und die Barrieren in den Köpfen abzubauen, wie es der Boys’ Day am Aktionstag bereits aufzeigt.