„Wir sind noch nie an die Grenzen der Kinder gestoßen, aber immer wieder an die Grenzen der Erwachsenen.“

Die Redaktion im Interview mit Rüdiger Hansen

Foto: privat.

Wir haben Rüdiger Hansen vom Institut für Partizipation und Bildung nach den Grundlagen einer partizipativen pädagogischen Praxis in Kindertagesstätten und seinen Erfahrungen mit der Umsetzung befragt.

Redaktion: Warum finden Sie Partizipation für Kinder in Kindertagesstätten wichtig? Warum ist Partizipation eine wichtige Maßnahme für die Prävention von sexuellem Missbrauch?

Hansen: Janusz Korczak meinte: „Kinder werden nicht erst zu Menschen – sie sind bereits welche“ (Korczak 1979: 106). Daher hat er ihnen in den von ihm geleiteten Kinderheimen weitgehende Selbst- und Mitbestimmungsrechte eingeräumt. Heute ist Partizipation ein international anerkanntes Recht von Kindern. In Deutschland sind pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten durch § 8 SGB VIII sowie durch die entsprechenden Paragrafen in den Kindertagesstättengesetzen der Länder seit zwei Jahrzehnten dazu verpflichtet, die Kinder an Entscheidungen, die ihr eigenes Leben oder das Leben der Gemeinschaft betreffen, zu beteiligen. Seit dem 01. Januar 2012 macht § 45 (2) SGB VIII sogar die Erteilung der Betriebserlaubnis von konzeptionell verankerten Partizipations- und Beschwerdeverfahren abhängig.

Dabei ist Partizipation keine zusätzliche Aufgabe, die neben vielen anderen erbracht werden muss. Kinder zu beteiligen, ermöglicht es vielmehr, zentrale Aufgaben von Kindertagesstätten angemessen und wirkungsvoll umzusetzen. So gilt Partizipation als

  • „Schlüssel für gelingende Bildungsprozesse“, da Bildung ohne die aktive Beteiligung der Kinder nicht zu haben ist (vgl. stellvertretend für die Bildungsrahmenpläne der Bundesländer Knauer/Hansen 2008; Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/Staatsinstitut für Frühpädagogik München 2005)
  • einzige Möglichkeit, demokratische politische Bildung von Kindern in Kindertagesstätten zu befördern (vgl. Hansen/Knauer/Sturzenhecker 2011)
  • notwendig für die Gestaltung von Inklusion, da eine Pädagogik der Vielfalt konkret nur durch Beteiligung der Einzelnen umzusetzen ist (vgl. Booth/Ainscow/Kingston 2006)
  • ein Beitrag zur Resilienzförderung bei Kindern, von dem insbesondere Kinder in schwierigen Lebenslagen profitieren (vgl. Lutz 2012)
  • ein wichtiger Beitrag zum Kinderschutz (§ 45 (2) SGB VIII wurde durch das Bundeskinderschutzgesetz geändert).

Im Kinderschutz sind Partizipation und Beschwerdeverfahren verankert, weil Kinder in ihrem Alltag erleben sollten,

  • dass es erwünscht ist, wenn sie sich einmischen
  • dass sie dadurch etwas bewirken können
  • dass Erwachsene auch manches falsch machen können
  • dass sie sich über Dinge beschweren dürfen und
  • dass ihre Beschwerde ernst genommen und bearbeitet und dass – wenn möglich – Abhilfe geschaffen wird.

Erst wenn solche Erfahrungen für Kinder selbstverständlich werden, kann man hoffen, dass sie auch ihre Stimme erheben, wenn ihnen von Erwachsenen (oder anderen Kindern) sexuell oder anders motivierte Gewalt droht.

Redaktion: Welche möglichen Formen einer partizipativen pädagogischen Praxis erachten Sie für Kindertagesstätten als sinnvoll?

Hansen: Partizipation thematisiert die Verteilung von Macht und Rechten zwischen Erwachsenen und Kindern. Es geht weniger darum, Kinder hier und da zu beteiligen, sondern vielmehr darum, die Kita und den gesamten Alltag demokratisch(-er) zu gestalten. Partizipation beginnt in den Köpfen der Erwachsenen, die für sich die pädagogische Kernfrage klären müssen, wie sie das asymmetrische Verhältnis in der pädagogischen Beziehung gestalten wollen (vgl. Kupffer 1980: 19).

Das derzeit umfassendste Konzept für Partizipation in Kindertagesstätten ist ‚Die Kinderstube der Demokratie‘ (Hansen/Knauer/Sturzenhecker 2011). Es ermöglicht, Kindertagesstätten als demokratische Orte zu entwickeln, indem die pädagogischen Fachkräfte gemeinsam im Team

  • die Rechte der Kinder klären: Worüber dürfen sie genau mit- oder eigenständig entscheiden und worüber nicht? Und worüber dürfen sie sich beschweren?
  • verlässliche Beteiligungsgremien einführen: Wo können sie ihre Interessen äußern, ihre Rechte einfordern oder ihre Beschwerden vorbringen und wie wird gemeinsam darüber verhandelt und entschieden?
  • die Beteiligungsverfahren methodisch angemessen gestalten: Wie können sich die Kinder eine Meinung bilden oder Beschwerden vorbringen, was brauchen sie dafür und wie wird ihnen das vermittelt?
  • die Interaktionen zwischen den Beteiligten respektvoll und dialogisch gestalten: Wie gelingt es, Kindern zuzuhören und sie zu verstehen? Wie fragt man sie, ohne sie zu bedrängen oder ihnen eine Antwort in den Mund zu legen? Wie konkretisiert man abstrakte Inhalte, sodass die Kinder sie sinnlich erfassen und an ihre Vorerfahrungen anknüpfen können?

Redaktion: Welche Schwierigkeiten sehen Sie in der Umsetzung bzw. welche (positiven wie negativen) Erfahrungen haben Sie bisher gemacht?

Hansen: Wir sind noch nie an die Grenzen der Kinder gestoßen, aber immer wieder an die Grenzen der Erwachsenen, die entweder nicht wollen, dass Kinder mit- oder eigenständig entscheiden, oder die nicht wissen, wie sie die Beteiligung der Kinder methodisch gestalten können. Das gilt umso mehr, je jünger die Kinder sind. Besonders im U3-Bereich überwiegt oft eher eine fürsorgliche Haltung. Fachkräfte wie Eltern meinen zu wissen, was die Kinder brauchen, und dafür sorgen zu können, dass sie es auch bekommen. Zudem fällt es vielen Erwachsenen angesichts der verbalen Eingeschränktheit der Kinder schwer, in einen Dialog mit ihnen zu treten.

So reagieren Fachkräfte zunächst meist erstaunt oder amüsiert, wenn wir fragen, ob Krippenkinder das Recht haben sollten, selbst zu entscheiden, ob sie gewickelt werden oder nicht. Viele pädagogische Fachkräfte sind zwar bereit, zehn Minuten später erneut vorzusprechen, wenn ein Kind seine aktuelle Tätigkeit nicht unterbrechen mag, um sie zum Wickeltisch zu begleiten. Die meisten Fachkräfte können einem Kind auch die Option einräumen, von einer anderen Fachkraft gewickelt zu werden, weil sie selbst vielleicht kurz zuvor einen Streit mit dem Kind hatten. Letztlich besteht aber die Mehrzahl der Fachkräfte darauf, dass ein Kind, dessen Windel voll ist, gewickelt werden müsse. Doch wodurch ist es zu rechtfertigen, die Integrität eines Kindes gegen dessen ausdrücklichen Willen auf diese Weise zu verletzen? Die Fachkräfte geraten hier in einen Konflikt zwischen ihrer Aufgabe, sich fürsorglich um das Kind zu kümmern, und dem Anspruch, ihm Autonomie und Selbstbestimmung zuzugestehen. Sie müssen abwägen, was schwerer wiegt: ein wunder Po oder ein gebrochener Wille.

Aber Kinder müssen in der Regel gar nicht zu ihrem ‚Glück‘ gezwungen werden. Meist steht in solchen Situationen weniger die vermeintliche Unvernunft der Kinder als vielmehr der von den Erwachsenen inszenierte Machtkampf einer einvernehmlichen Lösung des Problems im Wege. So berichtete eine Mutter während eines Elternabends, dass sie ihre unter Neurodermitis leidende Tochter lange Zeit nur unter Anwendung körperlicher Gewalt wickeln konnte, da das Kind sich stets energisch gegen die schmerzvolle Prozedur zur Wehr setzte. Ihr Kinderarzt gab der verzweifelten Mutter schließlich den Rat, ihre Tochter nicht mehr zum Wickeln zu drängen. Als sie ihr daraufhin das Recht gewährte, selbst zu entscheiden, ob und wann sie gewickelt wird, ließ sich das Mädchen nach einiger Zeit trotz der weiterhin vorhandenen Schmerzen freiwillig wickeln.

Wir erleben immer wieder, dass sich die Kinder so angemessen und kompetent verhalten – beispielsweise auch, wenn es ums Essen oder die ‚richtige‘ Kleidung zum Spielen im Freien geht. Machtkämpfe bezüglich solcher Fragen erweisen sich nach unseren Erfahrungen dagegen in aller Regel als unnötig und kontraproduktiv. Das Recht, eigenständig oder doch zumindest mitzuentscheiden, ob, wann oder von wem es gewickelt wird, signalisiert dem Kind im Übrigen von Anfang an, dass es auch in anderen Fragen ein Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper hat.

Und wie könnte ein Beschwerdeverfahren in der Krippe aussehen, wenn es einer Fachkraft einmal nicht gelingt, aus einem solchen Machtkampf auszusteigen? Kinder unter drei Jahren sind kaum in der Lage, sich im Anschluss an eine erlebte Situation über das Verhalten anderer zu beschweren. Sie äußern ihren Unmut unmittelbar. Ein Beschwerdeverfahren in der Krippe sollte daher auch direkt in der Situation ansetzen, in der die Beschwerde zum Ausdruck gebracht wird. Das kann durch ein einfühlsames und respektvolles Verhalten der Fachkräfte geschehen oder – wenn eine Fachkraft die Äußerung eines Kindes einmal nicht wahrnimmt oder nicht angemessen beachtet – durch eine direkte Intervention aus dem Kollegium. Zum Beschwerdeverfahren in der Krippe wird solch ein Verhalten, wenn die Fachkräfte untereinander eine ‚Kultur des Sich-Einmischens‘ verabreden und konzeptionell verankern.

Literatur

Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen/Staatsinstitut für Frühpädagogik München (Hg.) (2005). Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. Weinheim, Basel.

Booth, Tony/Ainscow, Mel/Kingston, Denise (2006). Index für Inklusion. Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln. Hg. v. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Frankfurt a. Main.

Hansen, Rüdiger/Knauer, Raingard/Sturzenhecker, Benedikt (2011). Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern! Weimar, Berlin.

Knauer, Raingard/Hansen, Rüdiger (2008). Erfolgreich starten. Leitlinien zum Bildungsauftrag in Kindertageseinrichtungen. Hg. v. Ministerium für Bildung und Frauen des Landes Schleswig-Holstein. Kiel.

Korczak, Janusz (1979). Von Kindern und anderen Vorbildern. Gütersloh.
Kupffer, Heinrich (1980): Erziehung – Angriff auf die Freiheit. Essays gegen Pädagogik, die den Lebensweg des Menschen mit Hinweisschildern umstellt. Weinheim, Basel.

Lutz, Ronald (2012). Kinderreport Deutschland 2012: Mitbestimmung in Kindertageseinrichtungen und Resilienz. Hg. v. Deutschen Kinderhilfswerk e.V. Berlin.

Einen weiteren Text von Rüdiger Hansen finden Sie in unserer Anfang Mai erscheinenden Handreichung „Sicherheit gewinnen. Wie Kitas männliche Fachkräfte vor pauschalen Verdächtigungen und Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen können“, in „MEHR Männer in Kitas – Analysen, Erfahrungen und Strategien“, Hrsg. Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ (2013/2014).

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