„Das Thema Sexualpädagogik ist noch viel zu wenig präsent“

Die Redaktion im Interview mit Prof. Dr. Stefan Timmermanns

Wir haben Prof. Dr. Stefan Timmermanns zu Sexualpädagogik in Kindertagesstätten interviewt. Er hat eine Vertretungsprofessur für Diversität in der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Sexualpädagogik/Sexuelle Bildung und Diversity Management an der Fachhochschule Frankfurt am Main und ist Vorsitzender der Gesellschaft für Sexualpädagogik. Er war zudem Mitarbeiter bei pro familia und bei der Deutschen AIDS-Hilfe.

Redaktion: Warum halten  Sie ein sexualpädagogisches Konzept für Kindertagesstätten für wichtig?

Timmermanns: Es bietet der Kita die Möglichkeit, eine gemeinsame Richtschnur für den Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität zu vereinbaren. Dem Einigungsprozess sollten Diskussionen und eine Beschäftigung mit diesen Themen vorausgehen, indem sich die Fachkräfte über ihre persönlichen und die gemeinsamen Standpunkte austauschen. Das gibt ihnen später mehr Sicherheit, weil sie wissen, woran sie sich orientieren können, wenn sie im Alltag in Situationen geraten, in denen es um Nähe, Distanz, Nacktheit oder Sexualität geht. Die Kinder profitieren von einem bewussteren Umgang der Erzieherinnen und Erzieher  mit Körperlichkeit und können ein positives Körpergefühl und dadurch ein größeres Selbstbewusstsein entwickeln. Zudem fördert ein Konzept die Transparenz gegenüber den Eltern. Sie werden schon vor der Anmeldung darüber informiert, wie die Einrichtung mit dem Thema umgeht, und können überlegen, ob sie sich darauf einlassen wollen. Ein sexualpädagogisches Konzept kann zudem signalisieren, dass die Einrichtung bei Übergriffen nicht wegschaut. Das hat auch auf potenzielle Täterinnen oder Täter von sexualisierter Gewalt eine abschreckende Wirkung.

Redaktion: Welche Erfahrungen haben Sie dabei mit Kitas gemacht? Worin sehen Sie Gelingensfaktoren, wo Schwierigkeiten für die Erarbeitung und Umsetzung eines sexualpädagogischen Konzepts? Was würden Sie Kindertagesstätten raten, die ein solches Konzept implementieren möchten?

Timmermanns: Wo es um ein so persönliches und intimes Thema geht, da gibt es oft unterschiedliche Meinungen. Um den Prozess des Austauschs und der Einigung im Team gut zu managen, kann eine externe Moderation hilfreich sein. Um auch fachlich auf dem neuesten Stand zu diskutieren, sollte man überlegen, eine sexualpädagogische Fachkraft einzubinden, z.B. für eine Fortbildung oder Schulung zum Thema ‚kindliche Sexualität und Sexualpädagogik‘. Auch zur Information der Eltern kann man auf externe Fachleute zurückgreifen, z.B. von pro familia, dem Sozialdienst katholischer Frauen, der AWO, Caritas oder der Diakonie. Sie genießen gerade bei Eltern eine hohe fachliche Autorität.
Eine fremde Konzeption einfach zu übernehmen, hat wenig Sinn. Sie passt nicht hunderprozentig zur eigenen Einrichtung und wird von den Fachkräften nicht akzeptiert. Wichtig ist die Suche nach einer gemeinsamen Haltung. Am Ende weiß man, wo man selber steht und wie die Kolleginnen und Kollegen darüber denken. Das hilft einem in konkreten Situationen im Alltag, aber auch in Konfliktfällen weiter.

Ganz wichtig ist auch eine Definition dessen, was mit dem Begriff ‚Sexualität‘ gemeint ist. Im Alltag verstehen viele Menschen darunter ‚Geschlechtsverkehr‘. Das kann zu Missverständnissen oder zu Ängsten vor einer ‚Sexualisierung‘ der Kinder führen. Fachleute verwenden meist einen weiten Sexualitätsbegriff, der auch den Umgang mit Nacktheit, Scham, der streicheln, schmusen, küssen, Doktorspielen, den Ausdruck von Gefühlen, Freundschaft etc. umfasst. Wenn der Begriff unklar ist, redet man aneinander vorbei.

Das Thema ‚Kinderschutz‘, also die Prävention von sexualisierter Gewalt, sollte in das sexualpädagogische Konzept integriert werden. Es kann auch ein wichtiges Argument sein, um die Eltern von der Sinnhaftigkeit der Sexualerziehung in der Kindertagesstätte zu überzeugen. Auf diese Weise wird aus der sexualfreundlichen Erziehung in der Kita ein umfassenderes Konzept. Im Gegensatz zu reinen Präventionsprogrammen hat es den Vorteil, dass die Kinder zunächst ein positives Körpergefühl aufbauen können, bevor sie mit Präventionsbotschaften wie ‚Du kannst Nein sagen‘ konfrontiert werden.

Redaktion: Welche Entwicklungen und Herausforderungen sehen Sie derzeit für eine progressive Sexualpädagogik? In Baden-Württemberg machen zurzeit konservative Kreise gegen das Vorhaben mobil, die Vermittlung der Akzeptanz von sexueller Vielfalt im schulischen Bildungsplan festzuschreiben. Wie sehen Sie derzeit das Klima für die Implementierung einer progressiven Sexualpädagogik in Bildungsinstitutionen?

Timmermanns: Das Thema ‚Sexualpädagogik‘ ist in der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern noch viel zu wenig präsent. Da haben die Länder mit den Ausbildungsverordnungen und die Schulen, an denen die Ausbildung stattfindet, großen Nachholbedarf. Vor dem Hintergrund der Fälle von sexualisierter Gewalt in den letzten Jahren ist das schwer nachvollziehbar.

Eine moderne Sexualpädagogik macht sich für die Rechte von sexuellen Minderheiten stark und vertritt Werte wie Gerechtigkeit und Chancengleichheit – egal ob es um Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, einer Behinderung oder einer bestimmten sexuellen Orientierung geht. Streng konservative Kreise wollen dies nicht. Sie wehren sich gegen das, was sie ‚Genderismus‘ oder ‚Homosexualisierung‘ nennen. Sie suggerieren, dass aus Mädchen Jungen und aus Jungen Mädchen bzw. aus Heterosexuellen Homosexuelle werden sollen. Diese Botschaften treffen bei besonders ängstlichen und verunsicherten Menschen auf fruchtbaren Boden. Sie entbehren aber jeglicher Grundlage und basieren auf bewusstem Falschverstehen und darauf, dass Textstellen aus dem Zusammenhang gerissen und entfremdet werden. Die geschlechterbewusste Arbeit in Kita, Schule und Jugendarbeit möchte, dass Jungen und Mädchen selber entscheiden können, wie sie sein und leben wollen, ohne von anderen verspottet zu werden, wenn sie vom Mainstream abweichen. Ein Ziel der modernen Sexualpädagogik ist es, dass Jugendliche, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen, keine Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung mehr haben müssen. Sie sind genauso wertvoll für die Gesellschaft wie alle anderen Menschen auch. Diese Botschaft kann man nicht erst dann an die nachwachsenden Generationen richten, wenn sich bereits eine abwertende Einstellung etabliert hat. Wenn wir tatsächlich etwas daran ändern wollen, dass lesbische und schwule Jugendliche fünf bis sechs Mal häufiger Selbstmord begehen als heterosexuelle, dann müssen wir deutlich früher damit beginnen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Dass die Maßnahmen und Methoden dafür auf Kosten der heterosexuellen Mehrheit bzw. Familie gingen, stimmt nicht. Denn Sexualität ist nicht ausschließlich männlich oder weiblich, hetero- oder homosexuell. Es gibt so viele Schattierungen dazwischen, wie es Individuen gibt. Alle Jugendlichen, egal welchen Geschlechts und welcher sexuellen Orientierung, profitieren von der Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, weil sie durch den Austausch miteinander erfahren, dass Geschlechtlichkeit und Sexualität vielgestaltig sind und nicht nach einem starren Schema ablaufen müssen. Das entlastet die Jugendlichen von dem Normalitätsdruck, der in der Pubertät besonders stark ist.

Soweit ich es einschätzen kann, handelt es sich bei den Menschen, die gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg sind, um eine Minderheit. Es gelingt ihr aber, über die Medien viel Aufmerksamkeit zu erzeugen und ihre Parolen zu verbreiten. Die Verantwortlichen in den Bildungsministerien sollten sich davon nicht verunsichern lassen. Wir Fachleute müssen die Politikerinnen und Politiker über die Fehlinformationen der Bildungsplangegnerinnen und -gegner aufklären und die Öffentlichkeit mit stichhaltigen Argumenten und Fachwissen überzeugen.

Redaktion: Vielen Dank für dieses Interview!


Einen weiteren Text von Prof. Dr. Stefan Timmermanns finden Sie in unserer Anfang Mai erscheinenden Handreichung „Sicherheit gewinnen. Wie Kitas männliche Fachkräfte vor pauschalen Verdächtigungen und Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen können“, in „MEHR Männer in Kitas – Analysen, Erfahrungen und Strategien“, Hrsg. Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ (2013/2014).

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