Entwicklungen in der Türkei

„Das ökonomische Wachstum ist einer der wesentlichen Faktoren, der Männer beeinflusst, Erzieher zu werden. Wie schon eingangs dargelegt, nahm die absolute Zahl der männlichen Erzieher zwischen 2000 und 2011 ... rapide zu. Die Hauptgründe für die Zunahme scheinen die Beschäftigungsgarantie und ein gutes Gehalt zu sein“, so Ramazan Sak aus der Türkei.

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Herr Sak, wie sieht die Situation männlicher Erzieher in der Türkei aus?

Wie in vielen anderen Ländern, gibt es auch in der Türkei nur wenige männliche Erzieher, die im Bereich der frühkindlichen Erziehung beschäftigt sind. Die letzten Berechnungen der türkischen Regierung zeigen, dass im Sektor der frühkindlichen Erziehung (von 3 bis 6 Jahren) 55.883 Erzieher/innen arbeiten, von denen 52.930 weiblich und 2.953 männlich sind (Ministerium für Bildung, 2012). Derzeit sind also nur 5,28 Prozent der Erzieher männlich. Im Jahr 2011 lag die absolute Zahl der männlichen Erzieher im Bereich der Elementarpädagogik in der Türkei bei 3414 (7,06 Prozent), so dass es scheint, dass die Anzahl männlicher Erzieher zurückgegangen ist. Ich stehe diesen Statistiken jedoch skeptisch gegenüber, und begründe mein Argument mit einer Redewendung, die im 19. und 20. Jahrhundert von verschiedenen Menschen benutzt wurde: „Es gibt drei Typen von Lügen: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken“.

Ein interessanter Aspekt ist, dass im Jahr 2000 nur 166 (1,39 Prozent) männliche Erzieher im Bereich der Elementarpädagogik arbeiteten, im Jahr 2011 es jedoch schon 3414 männliche Erzieher (7,06 Prozent) gab. Diese Steigerung ist jedoch nicht auf staatliche Interventionen oder auf Bemühungen anderer Institutionen zurückzuführen. Es sieht so aus, als hätte es einen natürlichen Anstieg der Anzahl männlicher Erzieher im Bereich der frühkindlichen Erziehung gegeben. Dies bringt die Türkei in eine einzigartige Position. Ein zweiter wichtiger Aspekt in Bezug auf die Statistik ist der Anteil der männlichen Studierenden im Fachbereich der frühkindlichen Erziehung an türkischen Universitäten. Im Jahr 2010 waren 88,2 Prozent der 2,505 Absolvent/innen dieses Fachbereichs Frauen und 11,17 Prozent Männer. Betrachtet man den Anteil der männlichen Studierenden in den Jahren 2010 und 2011, liegt ihr Anteil bei 14,7 Prozent. Im Vergleich dazu schrieben sich 2011 insgesamt 4.292 neue Studierende im Fachbereich frühkindliche Erziehung ein, davon waren 83,2 Prozent weiblich und 16,72 Prozent männlich. Es sieht so aus, dass die Zahl der männlichen Erzieher in der frühkindlichen Erziehung zu- und nicht abnimmt.

Nach Prüfung der letzten Statistiken habe ich zu sieben männlichen Erziehern Kontakt aufgenommen, die an meinem Forschungsprojekt ein Jahr zuvor teilgenommen hatten. In den letzten Jahren sind drei von ihnen Kitaleiter geworden, in Einrichtungen, in denen sie (vorher) pädagogisch gearbeitet haben. Es scheint, dass männliche Erzieher ihren Beruf nicht aufgeben, sondern im Feld der frühkindlichen Erziehung und Bildung leitende Positionen einnehmen. In der Türkei müssen Erzieher/innen mindestens drei Jahre Praxiserfahrungen haben, bevor sie die Kitaleiter/innen-Prüfung des Bildungsministeriums ablegen können. Deswegen haben männliche Erzieher, die Kitaleiter sind, mindestens drei Jahre praktisch gearbeitet. Aber auch wenn sie Kitaleiter sind, bleiben sie im Austausch mit den Kindern und ihren Familien. Weiterhin haben männliche Kitaleiter für Jungen Vorbildcharakter und können sie ermutigen, später selber Erzieher zu werden.

Sie haben untersucht, wie männliche Erzieher /Vorschullehrer ihren Berufseinstieg erleben. Was sind die ersten Erfahrungen, die männliche Erzieher in türkischen Kitas machen?

Zunächst möchte ich von meinen eigenen Erfahrungen berichten, die ich machte, nachdem ich meinen Abschluss im Fachbereich für frühkindliche Erziehung gemacht hatte. Vor dem Studium war ich  Beamter, wollte jedoch Erzieher werden. Als ich meine Arbeit als Erzieher in einem Kindergarten aufnahm, bestand das Personal aus über 70 Frauen (Erzieherinnen, Assistentinnen, Auszubildende, Verwaltungspersonal und die Kitaleiterin) und mir, dem einzigen Mann. Obwohl mich die Kitaleiterin, die Erzieherinnen und Eltern positiv unterstützten, drängte sich mir der unangenehme Verdacht auf, dass die Leute Witze über mich und meine Arbeit machten. Während dieser Zeit konnte ich mich mit anderen männlichen Erziehern austauschen und wir teilten unsere Erfahrungen und unterstützen einander.

Dann begann ich ein Master-Studium und ich nutzte die Erfahrungen, die meine Kollegen und ich gesammelt hatten und lies sie in meine Masterarbeit mit dem Titel: „Situationen, denen männliche Erzieher am Anfang ihrer Berufskarriere begegnen und die Ansichten von Eltern über männliche Erzieher” einfließen. Aus den Ergebnissen meiner Untersuchungen zu diesem Thema und aus meinen anderen Studien habe ich gelernt, dass ein Erzieher, der in seinem ersten Berufsjahr alleine in einer Kita arbeitet, mehr negative Erfahrungen macht, als einer, der in Kitas arbeitet, in denen schon andere männliche Erzieher tätig sind. Männliche Erzieher berichteten, dass Eltern sich die Existenz von männlichen Erziehern nicht vorstellen konnten, dass Kitaleiterinnen und andere Erzieherinnen negativ auf sie reagierten, dass sie auch von den Kindern nicht als Erzieher anerkannt wurden und dass sie dem Vorurteil begegneten, Männer seien für diesen Beruf ungeeignet.

Männliche Erzieher mit mehr als drei Jahren Berufserfahrung waren zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn häufiger negativen Situationen, ausgesetzt als solche, die weniger als zwei Jahre berufstätig sind. Es scheint, als ob sich die Situation für männliche Erzieher ändert und männliche Erzieher weniger negative Erfahrungen machen, da sich ein Bewusstsein entwickelt, dass auch Männer gute Erzieher sein können. Mittlerweile gibt es überall in der Türkei männliche Erzieher.

Die Türkei zeichnet sich in den letzten Jahren durch ökonomisches Wachstum und zunehmende Industrialisierung auch im Ostteil des Landes aus. Wirken sich diese ökonomischen Prozesse auch auf herrschende Männlichkeitsbilder aus? Gewinnen alternative Männlichkeitsentwürfe in der Türkei zunehmend an Bedeutung?

Das ökonomische Wachstum ist einer der wesentlichen Faktoren, der Männer beeinflusst, Erzieher zu werden. Wie schon eingangs dargelegt, nahm die absolute Zahl der männlichen Erzieher zwischen 2000 und 2011, ohne staatliche Interventionen oder Bemühungen anderer Institutionen, rapide zu. Die Hauptgründe für die Zunahme scheinen die Beschäftigungsgarantie und ein gutes Gehalt zu sein. In meinen Untersuchungen habe ich Erzieher gefragt, warum sie diesen Beruf gewählt haben. Daraufhin sagten einige, sie hätten keine bewusste Entscheidung getroffen, die meisten aber argumentierten, sowohl die Beschäftigungsgarantie als auch die Vergütung seien motivierende Faktoren bei der Berufswahl gewesen.

Weiterhin ist es interessant, dass die Steigerung der Anzahl männlicher Erzieher in der Bevölkerungsentwicklung der Türkei begründet liegt. Die meisten angehenden Erzieher/innen und Erzieher/innen kommen aus dem Osten der Türkei, wo das ökonomische Wachstum niedriger ist. Dies scheint die These zu bestätigen, dass  Männer den Beruf des Erziehers ergreifen, weil sie das Gehalt attraktiv finden.

Weiterhin ist es so, dass sich junge Männer aus dem Osten der Türkei für den Fachbereich frühkindliche Erziehung entscheiden, weil ihre Noten nicht gut genug sind, um Grundschulpädagogik oder ein Lehramtsstudium studieren zu können. Ökonomisches Wachstum und die zunehmende Industrialisierung der letzten Jahre hatten Auswirkungen auf den Bereich der frühkindlichen Erziehung und den Bedarf an mehr männlichen Erziehern.

Neben anderen Gründen führen auch die steigenden Lebenshaltungskosten dazu, dass immer mehr Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen. Wenn beide Elternteile, Mutter und Vater, außerhalb des Hauses arbeiten und sie kleine Kinder haben, brauchen sie eine qualitativ gute frühkindliche Betreuung, Erziehung und Bildung  für ihre Kinder. Der türkische Staat versucht auf diese Bedürfnisse einzugehen und für eine qualitativ hochwertige frühkindliche Erziehung und Bildung zu sorgen. Ein anderer Grund dafür, dass immer mehr Frauen arbeiten, ist die Zunahme der Scheidungsrate, die im ersten Quartal 2012 bei 31 Prozent lag (Türkisches Institut für Statistik, 2012). Daraus resultiert die Zunahme von allein lebenden Müttern in der Türkei. Diese Frauen schätzen es besonders, dass ihre Kinder in der frühkindlichen Erziehung männliche Rollenbilder erleben können.

Abschließend lässt sich sagen, dass die steigende Zahl der männlichen Erzieher auf ökonomische Gründe zurückzuführen ist, und auf den sich vollziehenden gesellschaftlichen Wandel, der dazu führt, dass der Anteil der arbeitenden Frauen und alleinerziehenden Mütter zunimmt. Neben dieser Veränderung wächst in der Türkei ein Bewusstsein für die Bedürfnisse von Kleinkindern, die in kleinen Familien, möglicherweise als Einzelkinder, in Großstädten aufwachsen. Diesen Kindern fehlt die traditionelle Großfamilie, die ihnen viele verschiedene Männerrollen vorleben könnte. Obwohl es ein langsamer Prozess ist: immer mehr Männer übernehmen einen Part im Leben ihres Kindes und eins der ersten Dinge die Kinder lernen müssen, ist die Bedeutung einer geschlechtergerechten Gesellschaft. Deswegen trägt jeder Versuch, die Anzahl der Erzieher zu steigern, zur Entwicklung von Kindern bei und ist für die ganze Gesellschaft gewinnbringend. Es gibt viele Organisationen, die Teil dieser Entwicklung sind. Auch die internationale Konferenz „Männer in der Elementarpädagogik“ liefert einen wertvollen Beitrag zur Steigerung der Anzahl der Männer in der frühkindlichen Erziehung auf internationaler Ebene. Die Konferenz ermöglicht den Austausch von Erfahrungen und steigert  das Bewusstsein der Menschen für die Notwendigkeit männlicher Erzieher in der frühkindlichen Erziehung und Bildung. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und allen Organisatorinnen und Organisatoren, Mitwirkenden und Teilnehmern und Teilnehmerinnen zu danken, die bei Konferenz dabei sein werden.

 

Danke für das Interview!