Bausteine für ein Schutzkonzept für Kitas

Ein Praxisbeispiel der evangelischen Kirche in Darmstadt. Im Interview mit Sabine Herrenbrück, Projektleiterin.

Foto: ESF-Modellprojekt "MEHR Männer in Kitas", Darmstadt.

Frau Herrenbrück, was hat die Mitarbeiter/innen der Projektstelle dazu bewogen, sich dem Thema "Schutz vor Generalverdacht und sexueller Gewalt" zu widmen und eine Broschüre zu diesem Thema herauszugeben?

Die Angst vor Grenzverletzungen gegenüber Kindern, vor sexualisierter Gewalt, vor übergriffigem Verhalten ist latent vorhanden und ein Thema, das die Menschen stark emotionalisiert. Treten Männer als Erzieher von kleinen Kindern in Erscheinung, dann verstärkt sich diese Angst fast zwangsläufig. Und mit der Angst kommt der Verdacht!

Der Kindertagesstättenbereich zeichnet sich vorwiegend durch weibliche Fachkräfte aus. Die Kindertagesstätte gilt scheinbar als geschlechtsneutraler Raum. Kommen dann Männer in diesen Bereich, stellt sich plötzlich die Frage des Geschlechts. Und das führt zu Irritationen und Verdächtigungen.
Wer „Mehr Männer in Kitas“ will, muss sich mit dem Generalverdacht auseinandersetzen. Beim zweiten Netzwerktreffen unserer Verbund-Kitas kam aus der Praxis ganz ausdrücklich der Wunsch, sich dem Thema zuzuwenden. Das Thema hat zwei Seiten, die wir dabei fokussieren müssen. Auf der einen Seite hat der Schutz der Kinder vor Missbrauch oberste Priorität. Auf der anderen Seite müssen auch die Mitarbeiter/innen vor falschen Verdächtigungen geschützt werden. Dies ist ein noch weitgehend unbearbeitetes Feld. Hier sehen wir besonderen Handlungsbedarf.

Warum ist es so wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen? Aus unserer Sicht sind es im Wesentlichen drei Gründe:

  • Erstens: Der Generalverdacht erschwert es, Männer in die Kitas zu bekommen. Wer Männer für den Beruf „Erzieher“ gewinnen will, muss sich mit ihren Befürchtungen beschäftigen, mit dem, was sie abhält, sich für den Beruf zu interessieren. Junge Männer befürchten unter Verdacht zu geraten und ziehen den Beruf „Erzieher“ für sich nicht in Erwägung. (Ein junger Mann bei einer Berufsbildungsmesse reagierte beispielsweise folgendermaßen: „Erzieher werden – nein danke! Da steht man doch als Mann mit einem Bein im Knast…“)
  • Zweitens: Männern, die bereits in der Kita arbeiten, kann der Generalverdacht das Leben schwer machen. Aktive Erzieher fühlen sich unwohl und diskriminiert, wenn sie im Kita-Team und von Eltern beargwöhnt werden. Nicht wenige verabschieden sich bald wieder aus der Kita und suchen berufliche Alternativen, bei denen man weniger direkten Kontakt mit Kindern hat (z. B. Jugendamt o.ä.).
  • Drittens: Der Generalverdacht erschwert die professionelle pädagogische Arbeit. In der Praxis zeigt sich, dass der Generalverdacht bei Erziehern und ihren Teams zu Verunsicherungen führen und professionelle pädagogische Arbeit erschweren kann. Es kommt vor, dass Männer in Kitas von körpernahen Tätigkeiten wie z. B. Wickeln oder Toilettengang mit Kindern ausgeschlossen werden, damit keine uneindeutigen Situationen entstehen können. Solches Vermeidungsverhalten entsteht aus Hilflosigkeit heraus, sie sind ein falscher Weg und taugen nicht als Schutzkonzept.

Kita-Teams, Leitungen und Trägervertretungen müssen Wege finden, professionell mit dem Generalverdacht umzugehen und konstruktive Schutzkonzepte zu finden. Dazu brauchen sie Unterstützung. Mit der Ausrichtung unserer Zwischenkonferenz zum Thema Generalverdacht und der Entwicklung von Materialien und Handreichungen haben wir hier einen Anfang gemacht.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Bausteine eines Schutzkonzepts, das Kinder vor sexueller Gewalt und Erzieher vor dem Generalverdacht in Kitas schützt?

Investition in die Professionalität der Fachkräfte

Investition in Ausbildung und Fortbildung ist ein fundamentaler Baustein eines Schutzkonzeptes. Professionelle pädagogische Arbeit können sowohl Frauen als auch Männer leisten. Entscheidend ist nicht das Geschlecht, sondern die persönliche Eignung, das Fachwissen und die Fähigkeit, das Wissen in die Tat umzusetzen. Professionell agierende Erzieher und Erzieherinnen handeln zum Wohl der Kinder, sie wissen um den richtigen Umgang mit Nähe und Distanz. Sie werden keine Grenzverletzungen und keinen Missbrauch begehen.

Transparenz im Team

Unprofessionelles Verhalten eines Erziehers/einer Erzieherin darf nicht unbemerkt bleiben. Getreu dem Motto: „Transparenz ist der Tod des Bösen!“
Offene Auseinandersetzung
Wir unterstützen eine Kita-Kultur, in der die Problematik Generalverdacht offen thematisiert wird (im Team und bei Elternabenden). Es müssen Wege gefunden werden, professionell mit dem Thema umzugehen.

Sexualpädagogische Konzeption

Wir unterstützen Kitas bei der Entwicklung einer sexualpädagogischen Konzeption, die eine klare professionelle Linie im Umgang mit sexuellen Themen (Nähe/Distanz, Grenzen, Grenzüberschreitungen, Umgang mit Doktorspielen) vorgibt.

Wenn Kindertagesstätten über ein professionelles sexualpädagogisches Konzept verfügen, profitieren davon auch Männer in Kitas. Eine ganzheitliche, sexualfreundliche Erziehung in der Kita ermöglicht Kindern eine positive körperliche und psychische Entwicklung. In diesem Sinne geförderte und gestärkte Kinder sind besser vor sexualisierter Gewalt geschützt. Sie können „nein“ sagen und sich Hilfe holen. In einem Team, in dem der Umgang mit Nacktheit, Sexualität, Nähe und Distanz offen und transparent den Eltern gegenüber diskutiert wird, brauchen Männer weniger Angst zu haben unter „Generalverdacht“ gestellt zu werden.

Keine Sonderbehandlung, Ausgrenzung oder gar Diskriminierung von männlichen Fachkräften

Klar muss sein, dass Männer alle Tätigkeiten in der Kita ausüben dürfen, die auch Frauen ausüben. Körpernahe Tätigkeiten gehören bei kleinen Kindern untrennbar zu pädagogischen Tätigkeiten dazu. Vermeidungsverhalten taugt nicht zum Kinderschutz. Zurzeit sind Kitas da oft verunsichert. Wenn Kitas intern eine klare Linie haben, können sie das auch nach außen vertreten und Bedenken abbauen.

Klare Regeln und Verfahrensmodi bei geäußertem Verdacht

Der Fachbereich Kindertagesstätten hat gemeinsam mit dem Dezernat Personalrecht der EKHN für die Kita-Praxis Ablaufpläne zum Umgang mit Verdachtsfällen entwickelt. Dazu gehören Vorgaben zur Intervention bei Wissen oder Verdacht von Gewalt innerhalb der Einrichtungen, ein Formular „Gesprächsprotokoll“ sowie Vorgaben zum Beschwerdemanagement.

Vertrauen der Eltern stärken

Eltern brauchen Vertrauen, wenn sie ihr Kind in die Hände anderer Erwachsener geben. Nur, wenn die Ängste der Eltern ernst genommen werden, können wir es erreichen, dass männlichen Erziehern eben so viel Vertrauen entgegengebracht wird wie den Erzieherinnen. Wir müssen uns mit der Gefahr tatsächlicher Übergriffe auseinandersetzen. Bereits vorhandene Schutzkonzepte müssen weiterentwickelt und den Eltern gegenüber kommuniziert werden. Das Vertrauen in die Professionalität der Fachkräfte muss gestärkt werden.

Wie stehen die Kita-Leiter/innen, Erzieher und Erzieherinnen dem Thema gegenüber?

Das Thema Generalverdacht im engeren Sinn wird in Kita-Teams dann interessant, wenn ein Mann eingestellt wird und von Eltern Kritik oder Bedenken geäußert werden. Oder natürlich, wenn tatsächlich der Verdacht eines Missbrauchs vorkommt. Wenn kein konkreter Anlass besteht, gibt es oft Berührungsängste mit dem Thema. In gemischten Teams möchte man nicht den Eindruck erwecken, man vertraue den männlichen Kollegen nicht. Man hat Angst, den Männern „auf die Füße zu treten“, und damit „das Klima zu verderben“. Bei der Thematisierung den Eltern gegenüber befürchtet man, dass „schlafende Hunde geweckt werden könnten“.

Manchmal fehlt auch das Problembewusstsein. Es kommt vor, dass männliche Erzieher der Meinung sind, falsche Verdächtigungen seien in ihrer Kita kein Thema. Fragt man genauer nach, dann stellt sich heraus, dass der Mann von Tätigkeiten, wie dem Wickeln ausgeschlossen ist.

Im weiteren Sinn, im Handlungsfeld „Umgang mit sexuellen Themen“, stellen wir fest, dass das Interesse und die Bereitschaft sich auseinanderzusetzen groß ist. Die Frage, wie man Mädchen und Jungen positiv im Umgang mit sexuellen Themen bestärkt und gleichzeitig einen eindeutigen Umgang mit Grenzen aufzeigt, beschäftigt sowohl Erzieherinnen als auch Erzieher sehr. In vielen Kitas wünscht man sich Unterstützung bei der Entwicklung oder Verbesserung sexualpädagogischer Konzepte.

Was würden Sie Trägern von Kitas mit auf den Weg geben, die sich mit dem Thema beschäftigen wollen?

Träger, die sich mit dem Thema „Schutz vor Generalverdacht und sexueller Gewalt“ beschäftigen wollen, sind auf einem guten Weg. Sie haben erkannt, dass Männer eine wichtige Zielgruppe für die Personalgewinnung sind. Und sie haben erkannt, dass „Schutz vor Missbrauch“ und „Schutz vor Generalverdacht“ zwei Seiten einer Medaille sind. Auf diesem Weg müssen sie umfassende Unterstützung bekommen.

Für die Personalentwicklung raten wir den Trägern, in ihren Kitas Fortbildungen zu den Themen „Gender“ und „Sexualpädagogik“ zu fördern. Träger sollten sich dafür einsetzen, dass ihre Kitas zum Thema Sexualpädagogik eine professionelle Fachberatung erhalten. Zudem sollten Träger daraufhin arbeiten, dass ihre Kitas eine sexualpädagogische Konzeption entwickeln, die dazu beiträgt, Kindern einen guten Umgang mit ihrer Körperlichkeit zu vermitteln und ihnen gleichzeitig eindeutig Grenzen aufzuzeigen. Träger sollten ihre Kitas motivieren, beim Thema „Sexualität“ mit Eltern zu kooperieren und ihre Haltung deutlich zu machen.

Wir danken Ihnen für diesen umfassenden Einblick und wünschen Ihnen für die Umsetzung Ihrer Projekte und Ideen weiterhin viel Erfolg!

Dieses Interview haben wir mit Sabine Herrenbrück, vom Darmstädter ESF-Modellprojekt "MEHR Männer in Kitas" geführt.

Hinweis des Herausgebers: Die Inhalte der Interviews spiegeln nicht immer die genauen Standpunkte der Koordinationsstelle wider.

www.mikitas.de | Zur Website des Darmstädter ESF-Modellprojekts "MEHR Männer in Kitas"

Broschüre | Download der im Interview erwähnten Broschüre des Darmstädter ESF-Modellprojekts zum Thema „Professionalität kennt kein Geschlecht“

http://www.mikitas.de/service/downloads/category/14-was-tun-im-verdachtsfall-infos-f%C3%BCr-kitas.html | Umfangreiches Material für den Umgang mit einem Verdachtsfall in der Praxis. Zum Beispiel: Beschwerdeformular, Leitfaden Gedächtnisprotokoll, Schema für Beschwerdemanagement.